Englische Literatur:Vom Gehen in der Natur

Zwei Bücher über das Leben und die Reisen des in Deutschland kaum bekannten englischen Romantikers John Clare: Die eigenen Erinnerungen des Dichters und eine Reise auf dessen Spuren.

Von Tobias Lehmkuhl

John Clare zählt neben Samuel Taylor Coleridge, John Keats, Percy Bysshe Shelley und Lord Byron zu den bedeutendsten Dichtern der englischen Romantik. Dass er hierzulande kaum bekannt ist und seine Gedichte nicht übersetzt sind, liegt womöglich daran, dass es für ihn in Deutschland kein rechtes Pendant gibt. Ist die Naturdichtung eines Joseph von Eichendorff oder eines Novalis doch vor allem von der Sehnsucht nach der Natur geprägt, und hat die Natur selbst in der deutschen Romantik immer etwas märchenhaft Irreales, so speist sich die Lyrik John Clares aus unmittelbarem, auch recht handfestem Erleben.

In den nun von Esther Kinsky übersetzen Selbstzeugnissen berichtet Clare davon, wie er immer wieder die Orte aufsuchte, an denen ihm die besten Verse gelangen, wie er während der Arbeit mit Hacke und Pflug zwischendurch das eine oder andere notierte und wie er es erst nicht wagte, seine Gedichte der Familie vorzulesen und sie als Erzeugnisse anderer ausgab.

Irgendwann aber war er sich seiner doch so sicher, dass er einen Buchhändler suchte, der ein erstes Buch von ihm publizierte. Die "Poems Descriptive of Rural Life and Scenery" wurden ein großer Erfolg, und Clare reiste das erste Mal nach London. Dort traf er einige der Literaturbetriebsgrößen seiner Zeit, Charles Lamb und William Hazlitt zum Beispiel. Thomas De Quincey widmete er ein kurzes Porträt: "Ein kleiner arglos & schlicht erscheinender jemand beinah wie ein zu gros geratnes kind gekleidet in einen blauen mantel & in ein schwarzes halstuch wunderlich mit dem hut in der hand so stiehlt er sich ganz leise in der geselschaft umher & sieht sich mit einem lächeln scheu im raume um - das ist de Quincey der Opium Esser & dieser abstruse denker in Logik & Metaphysik".

Als Verweigerer der zunehmend standardisierten Schreibweisen, erklärt Esther Kinsky in ihrem Vorwort, scherte sich Clare nicht um Orthografie und verzichtete gänzlich auf Interpunktion. Die Phonetik war ihm wichtiger und wohl auch der natürliche Rhythmus des Sprechens. Wie Kinsky dieses Englisch ins Deutsche bringt, frei von jeglichem Manierismus und voller Einfallsreichtum, wäre unbedingt preiswürdig.

Der Autor Iain Sinclair nennt Clare heute einen "Improvisator, einen Free Jazzer, wenn es um Schreibung geht". Der durch geopoetische Erkundungen Londons vor allem in der britischen Hauptstadt bekannt gewordene Sinclair hält sich zwar an grammatische Regeln, seinem Reisebericht "Am Rand des Orizonts. Auf den Spuren von John Clare 'Reise aus Essex'", der zeitgleich mit Clares Erinnerungen und ebenfalls in der Übersetzung Esther Kinskys erscheint, ist allerdings auch etwas sprunghaft Unberechenbares zu eigen.

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John Constables "Der Heuwagen", 1821 (Ausschnitt). Die Natur wurde von den Romantikern stark idealisiert. Foto: Imago

(Foto: Imago)

Bei der titelgebenden "Reise aus Essex", die Iain Sinclair im Jahr 2000 auf die Spur des romantischen Dichters bringt, handelt es sich um einen Fußmarsch, den John Clare an vier Julitagen des Jahrs 1841 unternommen hat. Da war sein Erfolg längst vergessen, er verbitterte zusehends und verfiel in Depressionen. Seit vier Jahren bereits lebte er in einer psychiatrischen Anstalt nördlich von London. Aus der brach er schließlich aus, um die Heimreise anzutreten zu seiner eingebildeten Ehefrau Mary.

Etwa hundert Meilen ging er zu Fuß, wobei er schon am zweiten Tagen eine Schuhsohle verlor und nur noch humpelnd und hüpfend vorwärtskam, ohne Geld und Verpflegung, am dritten Tag so ausgehungert, dass er Gras aß und sich in einen Graben zum Schlafen legte: "beim niederlegen & und aufstehen sprach ich ein kurzes gebet für meine zwei frauen & ihre beiden fammilien & wie ich an vergagne schwierigkeiten in derlei lagen dachte konnte ich nicht anders als auch die Königin zu segnen". Seine eigentliche Frau Patty klaubte ihn schließlich von der Straße auf und brachte ihn nach einigen Monaten in einer nahe gelegenen Anstalt unter, wo er 23 Jahre später starb.

Clares Wanderung, schreibt Iain Sinclair in "Am Rand des Orizonts", sei der letzte Akt geistiger Klarheit gewesen. Die Faszination für den Dichter, eine mögliche Verwandtschaft der Ehefrau Sinclairs mit Clare und nicht zuletzt der Namensgleichklang haben ihn schließlich zu seiner Nachreise veranlasst. Sinclairs Bericht allerdings beginnt mit dem Ende der eigenen Reise, um dann eine Weile in die Biografie des Dichters einzutauchen, danach die ersten Reisetage zu rekapitulieren und schließlich bei Samuel Beckett und James Joyce zu landen (dessen Tochter, einst mit Beckett liiert, saß in derselben Anstalt ein wie John Clare).

Englische Literatur: John Clare wurde 1793 in dem Dorf Helpstone geboren. Neben dem Schreiben arbeitete er in einer Vielzahl von Berufen, unter anderem als Erntehelfer, Kalkbrenner und Anwaltsgehilfe.

John Clare wurde 1793 in dem Dorf Helpstone geboren. Neben dem Schreiben arbeitete er in einer Vielzahl von Berufen, unter anderem als Erntehelfer, Kalkbrenner und Anwaltsgehilfe.

(Foto: Mauritius)

Dieses Durcheinander hat durchaus Charme, und vor allem die Passagen "on the road", entlang der "Great North Road" nämlich, sind zuweilen äußerst witzig. Ohnehin birgt ein viertägiger Fußmarsch gemeinhin nicht allzu große Schrecken, auch wenn man schon über Sechzig ist wie Sinclair und "jahrelanges Schleppen von Bücherkisten und Kindern unter jedem Arm" seine Spuren hinterlassen hat.

Die Landschaft besitzt freilich nichts mehr von der Anmut, die noch John Clare begegnet ist: Hektarweise Industriebrache und gelegentlich "ein pflichtschuldiger Reiher, der blutleer aus abgestorbenen Bäumen kippt wie ein schlecht zusammengebauter Drachen". Auch die Zigeunerlager, die John Clare so gerne aufsuchte, sind längst verschwunden. Nur der Geist des Zigeunerlebens, die Lust am Aufbruch, ist geblieben.

John Clare: Reise aus Essex und andere Selbstzeugnisse. Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Verlag Matthes und Seitz, Berlin 2017. 176 S., 22 Euro. Iain Sinclair: Am Rand des Orizonts. Auf den Spuren von John Clare "Reise aus Essex". Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Matthes und Seitz 2017, 272 S., 26 Euro.

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