Süddeutsche Zeitung

Englische Literatur:Vielfältige Sünden

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"Kriegslicht" heißt der neue Roman von Michael Ondaatje, der mit dem "Englischen Patienten" weltberühmt wurde. Es gilt, ein Familiengeheimnis aufzuklären: Warum starb die Mutter?

Von Lothar Müller

Ein eisiger Wind fegt Böen über das Wasser. Ein Lastkahn gleitet über die Themse, an Bord illegal importierte Windhunde, die lupenreine englische Stammbäume erhalten werden. Windhundrennen sind beliebt im England der Nachkriegszeit, Wettbetrug ist lukrativ, die Kunst des Hundedopings erlebt eine Hochblüte. Den Frachtkahn steuert ein Mann, den die beiden Jugendlichen, die mit im Boot sind, "Boxer" nennen. Er stand wirklich einmal im Ring, aber jetzt betreibt er obskure Geschäfte und ist - mit wechselnden Geliebten - Stammgast im Elternhaus der beiden Jugendlichen. Es ist ein Elternhaus ohne Eltern. Den Vater, so hieß es eines Morgens beim Frühstück, hat seine Firma, Unilever, nach Singapur beordert, die Mutter müsse ihn begleiten. Aber warum steht dann der Überseekoffer, so, wie sie ihn vor den Augen der Kinder gepackt hat, im Keller des Elternhauses?

Der Ich-Erzähler und seine ältere Schwester richten sich ein in der Elternlosigkeit

Michael Ondaatje, 1943 in Sri Lanka geboren und schon lange kanadischer Schriftsteller in Toronto, hat vor Kurzem für seinen Weltbestseller "Der englische Patient" (1992), den Anthony Minghella 1996 verfilmte, den "Golden Man Booker Prize" erhalten. Der englische Patient war kein Engländer, sondern ein ungarischer Wüstenforscher und Spion am Endes des Zeiten Weltkriegs. Aber er stand im Dienst der Royal Geographic Society, und so war es unausweichlich, dass flugbegeisterte Engländer mit Oxford-Hintergrund in seinem Roman eine Rolle spielten. Dieser neue Roman nun, "Kriegslicht", ist wie kein anderer dieses Autors ein durch und durch englischer Roman, im Stoff, im Schauplatz und im Arsenal der Formen, mit denen er spielt. Der englische Originaltitel "Warlight" ruft den "Blitz" herauf, den Bombenkrieg und die Luftangriffe, von denen das London der Nachkriegszeit gezeichnet ist. Zugleich setzt dieses Buch die Erkundung der Übergangszonen von Kindheit und Jugend fort, die Ondaatje im vorangegangenen Roman "The Cats Table" (2011, dt. "Katzentisch") begonnen hat. Der elfjährige Michael, auf einem Ozeandampfer von Colombo nach London unterwegs wie 1954 sein Autor, verwandelte das Schiff gemeinsam mit zwei Kumpanen in einen turbulenten Abenteuerspielplatz. Seine Ich-Erzählerstimme war aber nicht an die Überfahrt gebunden, sie enthielt Ausblicke auf die Zukunft, die den Immigranten erwartete, den prosaischen Alltag in London. Und erzählte die Geschichte einer zweiten Passage, der von der Kindheit in die Pubertät.

Nathaniel, der Ich-Erzähler in "Kriegslicht", hat diesen Übergang, als die Handlung des Romans einsetzt, schon hinter sich. Er war bei Kriegsende vierzehn Jahre alt, die Kindheit hat er verlassen. Er richtet sich mit der älteren Schwester in der rätselhaften Elternlosigkeit ein. In Rachel, der Epileptikerin, konzentriert sich die Wut auf die Mutter, die ihre Kinder verlassen hat. Nathaniel aber bleibt ihr im gesamten Buch nahe, er wird nach ihrem Tod zum Erzähler der Lebensgeschichte, die sie ihren Kindern verschwiegen hat. Mit seinem Autor teilt er das Interesse an Landkarten, an Dingen, in denen kondensierte Erinnerung steckt, an Tieren und am Wissen der Naturkunde. Und das Desinteresse an einem überschaubaren Plot, die Lust an einer durchlöcherten Chronologie.

Als Erzähler ist er in den Passagen am stärksten, in denen Orte, Landschaften, Stimmungen die Hauptrolle spielen. So in der Beschreibung des umgerüsteten "Muschelboots", mit dem der Boxer seine Geschäfte betreibt, den alten Kanälen und verborgenen Flussläufen, auf denen lange schon und im Zweiten Weltkrieg wieder Sprengstoff und Munition von Waltham Abbey nach London transportiert wurde. "Wir fuhren weiter durch das dunkle stille Wasser des Flusses mit dem Gefühl, er gehöre uns bis zur Mündung. Vorbei an Industriebauten mit abgedunkelter Beleuchtung, schwach schimmernd wie Sterne, als wären wir in einer Zeitkapsel in den Kriegsjahren, als Verdunklung und Ausgangssperre vorgeschrieben waren und es nur Kriegslicht gegeben hatte und ausschließlich verdunkelte Kähne diesen Flussabschnitt hatten befahren dürfen."

Die Form, die diesem Erzähler am nächsten liegt, ist das Kaleidoskop. Es zeigt die Vergnügungsetablissements der Nachkriegszeit, hinreißende Nebenfiguren wie eine der Geliebten des Boxers, die selbstbewusste vorgebliche Ethnografin Olive Lawrence, den jungen Nathaniel als Liftboy und Tellerwäscher, dem ein Kollege erotische Fabeln aus seiner unerschöpflichen Sammlung erzählt, und es zeigt ihn mit Agnes, seiner ersten Geliebten in leeren, kriegsbeschädigten Häusern. Sein Autor Ondaatje hat viel mit Nathaniel vor. Er hat ihn zum Erzähler eines Romans gemacht, der zugleich eine Coming-of-Age-Erzählung, ein Agentenroman und die Geschichte der Aufklärung eines Familiengeheimnisses sein will. Das Scharnier ist die Mutter, Rose Williams, die nach 1945 als Agentin unter dem Decknamen "Viola" an Operationen des britischen Geheimdienstes auf dem Balkan und in Italien beteiligt war. Was genau sie getan hat, will der Sohn erforschen.

Der Vater hingegen gerät ihm rasch aus dem Blick.

Nathaniel hat, nachdem die Mutter aus dem Geheimdienst ausgeschieden war und ihre Vergangenheit zu löschen suchte, kurz mit ihr in ihrem Elternhaus an der Küste in Suffolk gewohnt, zwar kaum etwas von ihr erfahren, aber die Narben an ihren Armen gesehen. "Zehn Jahre nach dem Tod meiner Mutter wurde ich eingeladen, mich im Außenministerium zu bewerben." Mit diesem Satz öffnet Ondaatje seinem Helden den Zugang zu den Archiven des britischen Geheimdienstes, wo er Dossiers aus den Kriegs- und Nachkriegsjahren zu sichten hat und dabei die Spuren seiner Mutter recherchieren kann. Aber der Satz enthüllt zugleich die Probleme, die sich Ondaatje einhandelt, indem er seine Jugend- und Familiengeschichte durch das Nadelöhr eines Agententhrillers fädelt. Denn es gibt in der Literatur so etwas wie einen Zauberlehrling-Effekt, den Widerstand der Formen gegen ihre allzu sorglose Inanspruchnahme. Und so scheitert der Erzähler bei seinem Versuch, einen Geheimdienstroman nach dem Vorbild von Eric Ambler oder John le Carré zum Wasserträger seines fragmentarischen Erinnerungsprojekts zu machen.

Was jemand wann weiß, ist im Agentenroman nicht unerheblich. "Zehn Jahre nach dem Tod meiner Mutter" - der Erzähler arbeitet daran, aus dem Tod der Mutter den Mord hervortreten zu lassen, dem sie zum Opfer fiel. Aber als er diesen Satz schreibt, weiß der Erzähler längst, dass seine Mutter nicht einfach starb, sondern ermordet wurde. Und er zieht dieses Wissen nicht aus dem Archiv, sondern aus der Erinnerung an den Tag, an dem ihm der Nachbar in Suffolk den Tod der Mutter schilderte. Wie viele Figuren entpuppt sich dieser Nachbar als Teil der Geheimdienstwelt, aber seltsam, meist ist der Lebensfaden, der sie mit der Agententätigkeit verknüpft, uninteressanter als der Alltag, der ihre Geheimnisse verdeckt.

Das gilt für den Naturkundler und abgestürzten Dachdecker, der im Geliebten der Mutter steckt und mit ihr ein melodramatisches Abenteuer erlebt, und es gilt für den "Falter", einen der Beschützer Nathaniels und seiner Schwester, der den Roman nicht überlebt. Im Original heißt er "Le Moth", die Motte, vielleicht in Erinnerung an das Flugzeug "Tiger Moth", das der Film "Der englische Patient" so brillant in Szene setzte. Anna Leube hat in ihrer sorgfältigen, stilsicheren Übersetzung gut die Motte durch einen Falter ersetzt. Dadurch ist wenig verloren und ein bestimmter Artikel gewonnen, der sich unauffällig an die Figur anschmiegt.

"Meine Sünden sind vielfältig", sagt die Mutter irgendwann, eine hingebungsvolle Balzac-Leserin. Es dürfte sich um ein Zitat handeln. Während der Geheimdienstroman eher vage im Niemandsland zwischen Zeitgeschichte und Kolportage endet, findet der Coming-of-Age-Roman, der schöne Passagen enthält, ebenfalls im Spiel mit einem Zitat an desillusionierendes Ende: "Früher lag ich die ganze Nacht wach und wünschte mir eine große Perle." Das erlesene Zitat stammt von Richard Parson (1759-1808), einem klassischen Philologen. Warum Agnes, das Kind der Arbeiterklasse, es im Mund führt, bleibt eines der Rätsel des Romans. Man halte sich bei seiner Lektüre an die Perlen, die in seinem Kaleidoskop versteckt sind.

Michael Ondaatje: Kriegslicht. Roman. Aus dem Englischen von Anna Leube. Carl Hanser Verlag, München 2018. 320 Seiten, 24 Euro.

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SZ vom 18.08.2018
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