Süddeutsche Zeitung

Englische Literatur:Hyänen-Taktik

An Kurzgeschichten lernen Autoren, wie man zum Schluss kommt, erklärt Jane Gardam. In eigenen, kürzeren Texten zieht sie Verbindungen zu ihrem Werk und entlarvt mit vibrierender Ironie die niederen Instinkte der Figuren.

Von Maike Albath

Sollte es wirklich noch unbekannte Briefe von Jane Austen geben? Briefe an einen Verehrer in ihrer berühmten, scharf gestochenen Handschrift? Der erfolgsverwöhnte und äußerst ehrgeizige amerikanische Literaturwissenschaftler Shorty, dessen Name auf seine Vorliebe für die kurze Form zurückgeht, wähnt sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Er hat Erben aufgetrieben, deren Briefbündel womöglich etwas preisgeben könnte über einen kaum erforschten Aufenthalt Jane Austens in Charmouth und eine geheime Liaison. Und er, Shorty Shenfold, würde die Sache ans Licht bringen!

Aber der selbstgewisse Amerikaner hat die Rechnung ohne seine ehemalige Studentin Annie gemacht. Annie, Engländerin, mittlerweile Schriftstellerin, steht in einem viel engeren Verhältnis zur Besitzerin der Briefe. Davon ahnt Shorty nichts, als er sie an einem heißen Julinachmittag mit tausend Pfund in der Tasche Richtung Axminster schickt. Er hätte es aber wissen können, wäre er im Umgang mit Menschen ähnlich sorgfältig, wie er es als Philologe vorgibt zu sein. Pech für Shorty.

Jane Gardam, Jahrgang 1925, Verfasserin von rund 30 Büchern und mit ihrer Trilogie über den ehemaligen Kronanwalt Filth neuerdings auch in Deutschland äußerst erfolgreich, ist selbst eine Virtuosin der kurzen Form. Die Geschichte "Die geheimen Briefe" treibt ein glänzend konstruiertes Verwirrspiel, das die Detektivarbeit, die gute Literaturwissenschaft ja auch ist, formal spiegelt. Immer wieder kommt ein weiteres Detail ans Licht, dreht sich der Blick des Lesers auf die Figuren. Zuerst hält man Annie für eine hilfsbereite Freundin, doch schon im zweiten Abschnitt ist davon die Rede, dass sie die "Drecksarbeit" für Shorty erledige.

Dann geht es um Shortys atemberaubende Karriere. Seine Spezialität seien knappe Texte, scharfsinnig, klug, oft mit einem Hang zu intimen Details. Inzest bei Wordsworth, Syphilis bei Shakespeare. "Shorty war ein guter Wissenschaftler, aber seine Leidenschaften und Taktiken waren die einer Hyäne", charakterisiert ihn Annie. Fehler habe man ihm nie nachweisen können. Aber, so heißt es trocken, eines Tages entdeckte Annie ihren eigenen, schlecht benoteten Erstsemesteraufsatz über Jane Austen wortgetreu in einem seiner Essays. Kurze Dialogsequenzen und Rückblenden strukturieren die Handlung, deren Motor die alte Kränkung ist.

Zwischendurch fühlt man sich an Henry James' Kurzroman "Die Aspern-Schriften" erinnert, in dem ein Wissenschaftler nach privaten Papieren eines Dichters fahndet und ebenfalls Opfer seiner schrankenlosen Gier wird. In anderen Geschichten aus Gardams Band "Die Leute von Privilege Hill" blitzt Somerset Maugham durch oder Katherine Mansfield.

Die 16 hier versammelten Erzählungen kreisen um Projektionen, Täuschungen, die Fallstricke der Liebe und die englische Klassengesellschaft. Immer wieder kommt die Hybris der Oberschicht zum Ausdruck. Viele Geschichten lösen sich nicht in einer Pointe auf, sondern bergen einen geheimnisvollen oder gar schaurigen Kern. Mit vibrierender Ironie entlarvt Gardam die niederen Instinkte ihres Personals. Sie ist auf elegante Weise boshaft, aber nicht hämisch, eher fasziniert von der Spezies Mensch an sich.

In "Jeder ein stolzer Reiter" schildert sie, wie ein Ehepaar aus dem altehrwürdigen Wimbledon die Tochter nach den üblichen Gepflogenheiten erzieht und zugleich zugrunde richtet. Die Titelgeschichte greift die Figuren und Handlungsräume ihrer Old-Filth-Trilogie auf, und hier zeigt sich der einzige Nachteil der schönen Ausgabe. Denn wer deren Personal nicht kennt, kann mit dieser Erzählung nur wenig anfangen. Es hätte eines Nachwortes bedurft, auch wäre eine Datierung der Geschichte aufschlussreich gewesen. War sie die Keimzelle für die Romane über den Anwalt oder ein später Nachklapp?

"Die Leute von Privilege Hill" basiert auf dem Band "The Stories" von 2014. Er enthält neben einem Dutzend weiterer Geschichten ein Vorwort der Autorin, das auch der deutschen Ausgabe nicht geschadet hätte. Durch Kurzgeschichten, erklärt sie dort, lernen Autoren, zum Ende kommen zu müssen. Ihrer Annie gönnt Jane Gardam zum Schluss einen überraschenden Triumph.

Leseprobe

Einen Auszug aus den Erzählungen stellt der Verlag auf seiner Internetseite zur Verfügung.

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Quelle:
SZ vom 28.11.2017
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