Süddeutsche Zeitung

Englische Gegenwartsliteratur:Der Papagei

In seinem Roman "Der Lärm der Zeit" erfindet Julian Barnes das Innenleben des Komponisten Dmitri Schostakowitsch, der sich mit der Sowjetunion unter Stalin arrangierte.

Von Thomas Steinfeld

Die rätselhafteste Figur in Julian Barnes' jüngstem Roman ist nicht dessen Held, der russische Komponist Dmitri Schostakowitsch, ein Mann, der um seines Daseins als Musiker willen (die Sache ist komplizierter, doch davon später) zum politischen Opportunisten, zum Kollaborateur und Verräter wird. Die rätselhafteste Figur ist der Erzähler. "Das Leben", notiert er, "war die Katze, die den Papagei am Schwanz die Treppe hinunterzog; sein Kopf knallte gegen jede Stufe." Der Erzähler kennt dieses Leben, diese Katze und diesen Papagei, als steckte er selbst in jeder dieser Gestalten, und mit den Stufen ist er gleichfalls vertraut. Er erzählt in der dritten Person, von einem "Er", und doch ist es, als sagte er eigentlich "ich" - nur ist dieses "Ich", das als "Er" auftritt, viel eindringlicher, als ein "Ich" es wäre. Doch klüger als ein "Ich" ist es gewiss nicht, nur weiß es viel mehr.

So vergehen die Nächte. Dass kein Geheimpolizist kommt, kann Zufall sein oder Plan

Es weiß zum Beispiel, was Angst ist. Im Januar 1936 war Dmitri Schostakowitsch, damals erst 31 Jahre alt, ein Komponist schon auf der Höhe seines Erfolgs. Zwei Jahre schon wurde seine zweite Oper, "Lady MacBeth von Mzensk", aufgeführt, mit gewaltigem Erfolg, in der Sowjetunion wie im westlichen Ausland. Da besuchte Josef Stalin mit seiner Entourage eine Aufführung im Bolschoi-Theater - und verließ die Darbietung während der Pause. Vielleicht hatten ihm die Blechbläser zu heftig ins Ohr gelärmt, vielleicht war er empört, weil die Musik einen Beischlaf inszenierte, vielleicht gefiel ihm das ganze Werk nicht. Gleichwie: zehn Tage nach der Aufführung veröffentlichte die Prawda einen Verriss, der vom Werk, vom Komponisten und dessen Kunst nichts übrig ließ als einen Verrat an der Sowjetunion. Dmitri Schostakowitsch wusste sofort, was dieser Artikel bedeutete: Berufsverbot, Verhaftung, Arbeitslager, Hinrichtung. Er ist nicht das erste Opfer dieser Herrschaft, bei Weitem nicht.

Weil der Erzähler weiß, was Angst ist, schildert er sie in ihrem nacktesten Augenblick, und zwar nicht in psychologischer Form, sondern in einer Szene: Stalins Schergen kommen nachts, wenn die Menschen schlafen, um sie in einer Situation äußerster Hilflosigkeit und Privatheit zu ergreifen. Und weil Dmitri Schostakowitsch sich nicht in dieser Weise preisgeben will, macht er sich jeden Abend zum Ausgehen bereit, packt einen kleinen Koffer, verlässt die Wohnung im fünften Stock und wartet im Treppenhaus vor dem Aufzug. Drinnen schläft das Kind, und die Frau liegt wach. Draußen steht der Mann, raucht, und jedesmal, wenn der Aufzug in Gang gesetzt wird, zieht sich sein Inneres zusammen. So vergehen die Nächte, und dass kein Geheimpolizist kommt, um ihn zu holen, kann Zufall oder Plan sein. Die Angst, das ist der Augenblick, in dem jemand im Erdgeschoss auf den Knopf drückt und der Aufzug sich mit einem Ruck zu bewegen beginnt.

Der Erzähler weiß auch, was Scham ist. Im Jahr 1949 wurde Schostakowitsch, von Stalin persönlich beauftragt, mit einer sowjetischen Delegation zu einem Kulturkongress nach New York zu fahren. Dort wurde in seinem Namen verlesen, was ihm aufgeschrieben worden war: dass die Vereinigten Staaten den Dritten Weltkrieg vorbereiteten, dass der Komponist das Volk zu beflügeln habe, dass Igor Strawinsky sein Volk verraten und sich einer reaktionären, nihilistischen Clique angeschlossen habe. Nichts davon entsprach seinen Überzeugungen. Ein Russe, der für die CIA arbeitete, zwang ihn nach dem Vortrag in ein Verhör vor Publikum. Und so bekannte er sich dazu, dass Aufführungen von Werken Hindemiths, Schönbergs und Strawinskys in sowjetischen Konzertsälen verboten bleiben sollten, während der Schweiß ihm hinter den Ohren herablief. Und dabei dachte er, wie der allwissende Erzähler behauptet, an einen früheren Gönner, der einen kurzen Augenblick von Courage nicht lange überlebte.

Und noch etwas weiß der Erzähler. Er weiß, was Feigheit ist. Sie besteht zum Beispiel darin, dass Dmitri Schostakowitsch nach Jahrzehnten, in denen er nicht Mitglied der Kommunistischen Partei war, ihr im Jahr 1960 dennoch beitrat - zu einer Zeit, in der die Schreckensherrschaft überwunden war, und vielleicht sogar auf eigenen Antrieb. Vielleicht war ihm versprochen worden, auf diese Weise bei der Rehabilitierung von Verfemten mitwirken zu können. Vielleicht gab er einfach nach, müde und längst dem Alkohol ergeben: "Und so ergab er sich ..., wie ein Sterbender sich einem Priester ergibt. Oder wie ein Verräter, vom Wodka betäubt, sich einem Exekutionskommando ergibt". Das Eigenartige ist dabei, dass der allwissende, aber sich aller Klugheit enthaltende Erzähler von diesem Akt der Selbstaufgabe beinahe wie von einem heroischen Akt erzählt. Wenn er schreibt, Dmitri Schostakowitsch habe in diesem Augenblick "schon die für einen Selbstmord erforderliche Selbstachtung" gefehlt, verkehrt sich dieses Motiv in sein Gegenteil: Denn benötigt man für eine solche Feigheit nicht auch eine Art von Konsequenz, von Beständigkeit und Entschlossenheit?

Drei Kapitel hat Julian Barnes' Roman "Der Lärm der Zeit". Das erste gilt dem Warten vor dem Fahrstuhl, das zweite gilt der Reise nach Amerika, das dritte schildert eine Fahrt in einer Limousine, in der Dmitri Schostakowitsch als Mitglied der sowjetischen Nomenklatura befördert wird. Ein jedes Kapitel beginnt mit dem Satz: "Er wusste nur eins: Dies war die schlimmste Zeit." Der Superlativ darin ist eine vertrackte Angelegenheit. Denn wenn die unmittelbare Gefährdung des Lebens der Maßstab sein soll, nach dem die Zeiten zu bewerten sind, werden die Zeiten über jene drei Stationen hinweg besser. Misst man sie hingegen nach dem Grad des moralischen Verfalls, so werden sie nicht so sehr "schlimmer" als vielmehr elender, quälender, unglücklicher.

Der Erzähler verzichtet auf alle Möglichkeiten, seinem Werk mehr Tragik zu verleihen

Und gibt es da nicht neben den pompösen späten Orchesterwerken die gleichzeitig, aber eher im Verborgenen entstehenden Streichquartette, das Kostbarste und ästhetisch Reinste, was dieser außerordentliche Komponist je schrieb? Und überhaupt: Wie ist es mit der Ironie in seinem Werk, der Doppeldeutigkeit, die so oft das Pathetische, Erbauliche und womöglich den Partei-Idealen Verpflichtete ins Fratzenhafte und Dämonische verkehrte?

Der allwissende, aber nicht kluge, weil ganz dem einzelnen Menschen zugewandte Erzähler schlägt viele und oft schon erfolgreich angewandte Möglichkeiten aus, vom Leben Dmitri Schostakowitsch zu erzählen. Zwar benutzt er die im Jahr 1979 erschienenen (aber immer noch nicht in ihrer Authentizität bestätigten) Memoiren. Aber er entschlägt sich der darin propagierten allegorischen Lesart des Werks, sucht nicht nach den parodistischen Elementen, in denen man eine radikale Distanz zur politischen Herrschaft hatte entdecken wollen. Er will auch nichts davon wissen, dass sich in der vor allem im Spätwerk häufig verwendeten Tonfolge D - Es - C - H (Buchstaben, die für den Namen des Komponisten stehen) ein mehr oder minder glorreicher Versuch der Selbstbehauptung verbirgt. Dieses Motiv, auf das Achte Streichquartett bezogen, spielt eine Schlüsselrolle in dem Roman "Europe Central" des amerikanischen Schriftstellers William T. Vollmann aus dem Jahr 2005.

Nein, der Erzähler verzichtet sogar auf offenkundig vorhandene Möglichkeiten, seinem Werk mehr Tragik zu verleihen, etwa unter dem Motto: Was hätte dieser Mann komponieren können, wenn er kein solcher Opportunist gewesen wäre? Denn der Erzähler hat etwas ganz anderes im Sinn. Er will den Papagei zeigen, wie er von einer Katze die Treppe heruntergezogen wird, so dass er auf jeder Stufe heftig mit dem Kopf aufschlägt. Es steckt viel Leben in diesem Vogel, ein hohes Maß an Selbstreflexion, an Eigensinn, auch an Schläue. Der Papagei wird gequält, aber er quält sich auch selbst. Er ist ein Opfer, aber es will überleben, mit allen Mitteln, die ihm dafür zur Verfügung stehen, den redlichen und den unredlichen. Er leistet mitunter sogar Widerstand. Es ist leicht, Mut zu fordern, für den es keine Umstände gibt, keine Abhängigkeiten und Verhängnisse. Der allwissende, jedoch nicht unbedingt kluge Erzähler aber berichtet von den Umständen. Entstanden ist daraus ein außerordentlich guter Roman.

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Quelle:
SZ vom 18.02.2017
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