Endspurt bei der Berlinale:Im Herzen herrscht Stille

Tsai Ming-Liang und Sally Potter zeigen ihre Filme im Wettbewerb, und James Benning eine neue Seh-Übung im Forum.

Von Susan Vahabzadeh

"Eternally", das Lied aus Charlie Chaplins Film "Rampenlicht", ist wohl das einsamste Musikstück der Welt. Es hat einen Auftritt in Tsai Ming-Liangs "Rizi/Days", es erklingt aus einer kleinen Spieluhr, die Kang einem Jungen aus Bangkok geschenkt hat, als Dank für eine Begegnung im Hotelzimmer; und wenn Non, der käufliche Junge aus der Stadt, nachts an der Bushaltestelle sitzt und dem Lied lauscht, dann weiß man nicht so recht, ob man schmunzeln soll oder vielleicht doch weinen, weil diese zwei Menschen nicht wissen, wie gut sie einander brauchen könnten.

An einem Stummfilm ist "Days" näher dran als "Rampenlicht", ein schweigsamer Film, und die wenigen Worte, welche die beiden Männer miteinander wechseln, kann man nicht verstehen. Erst sieht man Kang in seinem Haus sitzen, auf den Regen starrend; dann Non, wie er in seiner kleinen Stadtwohnung Essen zubereitet. Mit viel Aufwand und Energie. Zwei akribisch aufgeräumte Wohnungen, Kangs ist eher luxuriös, die von Non ärmlich - aber beide haben sich Mühe gegeben, ein Zuhause entstehen zu lassen, wo keines ist.

Filmstills

Ein demenzkranker Vater und seine Tochter: Javier Bardem und Elle Fanning in Sally Potters „The Roads Not Taken“.

(Foto: Berlinale)

Das ist dann tatsächlich rührend und bewegend, manchmal komisch, eine wunderbare Zivilisationskritik - wenn man sich denn darauf einlässt. Tsai Ming-Liang, der in Berlin schon mit "Wayward Cloud" im Wettbewerb war und in Venedig mit dem wunderschönen "Goodbye, Dragon Inn", wo während einer letzten Filmvorführung vor leeren Rängen ein Kino geschlossen wird, erzählt in langen Einstellungen, und es passiert nicht viel, außer vielleicht in den Gesichtern seiner Protagonisten. Aber er erzählt dann doch mehr als andere, die viele Worte machen - verglichen mit mancher vorgespiegelten Handlung, die dann doch kaum zu glauben ist, ist das stille, komische Drama dieser beiden einsamen Männer eigentlich Action-Kino. Ähnlich wie der Amerikaner James Benning, dessen neuer Film "Maggie's Farm" am Vortag im Forum Premiere hatte, ist Tsai Ming-Liang auf der Suche nach dem Kern des Kinos: die Wahrnehmung schärfen, die Aufmerksamkeit auf das lenken, was wir mit bloßem Auge nicht sehen. "Maggie's Farm" zeigt in minutenlangen Einstellungen Wände und Treppen der Uni, an der Benning lehrt, bis man Details zu sehen beginnt. Tsai Ming-Liang macht das mit Menschen, die einem dann nach einer Weile ans Herz wachsen, einfach, weil man sich mit ihnen befasst.

Der Film mit den prominentesten Schauspielern bleibt seltsam unnahbar

Auch Javier Bardem als Schriftsteller Leo in Sally Potters "The Roads Not Taken" sagt wenig. Potters Film ist ebenfalls im Wettbewerb, doch obwohl sie die prominentesten Schauspieler der ganzen Berlinale hat und eine von Haus aus ergreifende Geschichte, bleibt ihr Film seltsam unnahbar. Leo ist dement. Seine Tochter Molly (Elle Fanning) will mit ihm zum Zahnarzt und dann zur Arbeit, aber der ganze Tag entgleitet ihr: Leo ist nicht da, er ist in Gedanken verreist. Ineinander verwoben ist da der Nachmittag, an dem er mit seiner ersten Frau (Salma Hayek) in Mexiko nicht ans Grab seines Sohnes will; und jener Abend in Griechenland, als ein junges Mädchen ihn an seine zweite Frau, Mollys Mutter, erinnert und er sich fast umbringt. Es ist aber unklar, ob das nun alles so war, oder ob da tatsächlich Abzweigungen in der Erinnerung verborgen sind, die alles verändert hätten.

In der Realität schleppt Molly ihren Vater jedenfalls zum Zahnarzt, wäscht ihn, als er in die Hose macht, bringt ihn ins Krankenhaus, als er sich aus dem Taxi fallen lässt, zerreißt sich förmlich, bis sie zweimal da ist - die eine geht, die andere bleibt bei ihrem Vater; eine schöne Szene. Überhaupt spielen Bardem und Fanning großartig, und wenn er sie endlich wahrnimmt, geht einem das nah; aber die Gefühlsausschläge zerfallen. Vielleicht, weil Molly sie zerredet. Im Herzen des Kinos herrscht eben Stille.

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