Endloses Wachstum:"Ernteausfälle, Hitzetote und Umweltflüchtlinge sind die Rückzahlungen, die wir leisten müssen"

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Sichtbare Folgen des endlosen Wachstums? Das aufgrund von Dürre ausgetrocknete Flussbett des Rheins bei Düsseldorf. (Foto: dpa)

Ohne Wachstum ist alles nichts? Nein, sagt André Reichel. Der Professor für Internationales Management und Nachhaltigkeit plädiert für ein Umdenken beim Thema Wirtschaftswachstum.

Interview von Benjamin Reibert

Hat das Wirtschaftswachstum ein Ende? Oder ist der Glaube von Staaten und Unternehmen an ein stetes Wachstum und ein jährlich steigendes Bruttoinlandsprodukt gerechtfertigt und sinnvoll? Dr. André Reichel, Professor für Internationales Management und Nachhaltigkeit an der International School of Management in Stuttgart, veröffentlicht in diesen Tagen mit dem Trendforscher Harry Gatterer vom Zukunftsinstitut die Studie "Next Growth: Wachstum neu denken?" Zentrale These: Die klassische, auf Maximierung von Wachstum fixierte Ökonomie ist in schweres Fahrwasser geraten und kommt in Teilen zum Erliegen. Er plädiert deshalb dafür, dass wir uns von den Wachstumszwängen befreien und neue Wege einschlagen. Er spricht vom humanen Kapitalismus. Ein Gespräch über das mögliche Ende des jetzigen Systems und den quasi-religiösen Glauben an das Wirtschaftswachstum.

SZ: Die Apple Inc. hat vor kurzem einen Börsenwert von einer Billion Dollar erreicht. Was bedeutet das?

André Reichel: Dass offensichtlich eine ganze Menge von Anlegern daran glauben, dass Apple seine Erfolgsgeschichte der Vergangenheit - in erster Linie die des iPhones - in Zukunft weiter fortschreiben kann. Börsenwerte sind immer Hoffnungen und Erwartungen, was die Zukunft angeht.

Hoffen auf weiteres Wachstum also. Was meint der Begriff überhaupt?

Aus volkswirtschaftlicher Sicht der langfristige Entwicklungstrend von Angebot und Nachfrage. Wenn sich beides im Gleichschritt entwickelt, gibt es weder Arbeitslosigkeit noch Inflation. Gemessen wird das Wachstum in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Die bekannteste Maßzahl ist das Bruttoinlandsprodukt. Darunter versteht man die zu Marktpreisen bewertete Summe aller in einem Land abgesetzten Güter und Dienstleistungen. Werden also mehr Smartphones, Psychopharmaka und Pauschalurlaube verkauft, steigt das Bruttoinlandsprodukt, die Wirtschaft wächst. Bei Unternehmen kann diese Sicht auf Wachstum am ehesten mit der Zunahme der Bruttowertschöpfung zusammengebracht werden - also der erbrachten Eigenleistung ohne Vorleistungen. In Deutschland sind das zum Beispiel bei einem Autohersteller die Entwicklung und die Endfertigung der Fahrzeuge, während die Autobatterie eine Vorleistung eines anderen Unternehmens darstellt.

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Ist Wachstum endlich?

Materielles Wachstum auf einem materiell begrenzten Planeten hat natürlich Grenzen. Es ist bis heute der Trick der ökonomischen Wissenschaften, diese physikalische Binsenweisheit zu überdecken mit der Erzählung der Innovation, des Erfindergeists oder eines "grünen Wachstums" durch Innovation und Investition in Umweltindustrien. Vor ein paar Tagen war der Earth Overshoot Day...

...das ist der Tag, ab dem wir alle natürlichen Ressourcen aufgebraucht haben, die die Erde innerhalb eines Jahres regenerieren und nachhaltig zur Verfügung stellen kann...

...genau. Bis zum Jahresende sind wir also ökologische Schuldner, wir leben und wirtschaften auf Pump. Klimawandel, Biodiversitätsverlust, Übersäuerung der Ozeane und die sozialen und wirtschaftlichen Folgen wie Ernteausfälle, Hitzetote und Umweltflüchtlinge sind die Rückzahlungen, die wir leisten müssen. Das wird mehr werden in Zukunft, wenn es nicht gelingt, von Wachstum, wie wir es bislang gekannt haben, auf eine andere Art des Wirtschaftens umzustellen. Und da kommt natürlich schnell die Frage auf: Was ist dann genug?

Ist die Frage überhaupt zu beantworten?

Jeder von uns kann relativ klar sagen, was für ihn genug ist. Aber wenn die Frage auf die gesellschaftliche Ebene gehoben wird, wird es schon schwieriger. Die Einzelerwartungen sind dann nicht deckungsgleich. Diese Frage ist keine philosophische sondern eine politische, sie wird immer umstritten sein.

Wieso ist es keine philosophische Frage?

Selbstverständlich rührt die Frage nach dem guten Leben und was genug für einen ist an philosophischen Grundüberzeugungen und hat alle philosophischen Traditionen der Welt seit jeher beschäftigt. Wenn wir diese Frage aber nicht nur für uns persönlich, sondern als Gesellschaft beantworten wollen, treten wir ins Reich der Politik ein. Über die Frage nach dem Genug und dem guten Leben muss politisch gerungen und demokratisch in Parlamenten entschieden werden. Ich befürchte nur, dass ganz schnell die technischen Antworten kommen. Wir können ruhig so weitermachen, die Technik wird uns schon helfen.

Warum glauben wir so sehr daran, dass Wachstum etwas Gutes für unsere Gesellschaft bedeutet?

Wir haben seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Wachstumserfolgsgeschichte erlebt. Wir sind es also gewohnt, dass Wachstum geschieht und - siehe Wirtschaftswunder - dass es das Leben der Menschen verbessert. Gerade die Bundesrepublik hat das Wirtschaftswachstum aus historischer Erfahrung an die Stelle von Begriffen wie Nation oder Volk gestellt. Der wirtschaftliche Erfolg, das Wachstum und der eigene Beitrag daran waren bisher der Patriotismus der Deutschen. Einen Ersatz dafür zu finden, der positiv und in die Zukunft gerichtet ist, fällt nicht leicht.

Das Streben nach Wachstum hat für viele Menschen aber ja tatsächlichen Wohlstand gebracht. Darf man das außer Acht lassen?

Dank des Wirtschaftswachstums der vergangenen Jahrzehnte ist es vielen Menschen viel besser ergangen, als es sich die vorangegangen Generationen je hätten vorstellen können. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern gerade in den vergangenen 30 Jahren auch global. Noch nie ging es so vielen Menschen materiell so gut wie heute - in absoluten wie in relativen Zahlen. Wenn das Wachstum aber immer wieder stolpert, wenn das Wachstum dramatische negative ökologische und in der Zwischenzeit auch soziale Nebenfolgen hat, dann bringt der Verweis auf die angenehmen Erfahrungen der Vergangenheit nichts mehr. Wandel ist dann notwendig: im Denken, im Handeln.

Muss ein privates Unternehmen oder ein Staat zwangsläufig immer expandieren und größer werden?

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Bei Unternehmen kommt es drauf an, was sie für Unternehmen sind und in welchem Umfeld sie agieren. Sicherlich braucht ein Start-up eine Wachstumsphase, damit es sich stabilisieren kann. Ein etablierter Handwerksbetrieb hat vermutlich keine Wachstumsstrategie und braucht sie auch nicht. Auch viele Mittelständler haben keine klar formulierte Wachstumsstrategie. Wachstum ist da eher etwas, das passiert, weil man erfolgreich ist. Und Unternehmen schrumpfen manchmal auch, weil der Markt schrumpft, auf dem man tätig ist. Die Wachstumserzählung ist vor allem eine der Großunternehmen. Was den Staat angeht, so sehen wir ja eher die Sorge um eine zu große Staatstätigkeit und zu große Verschuldung. Da scheint das Ende des Wachstums eher auf Akzeptanz zu stoßen, auch wenn selbstverständlich die Haushalte der Nationen weiter wachsen. Die Zwangsläufigkeit entsteht erst dann, wenn das Wachstumsdenken unhinterfragt als Grundannahme bei jeder Entscheidung mitläuft. Sich davon frei zu machen ist eine große Herausforderung, vermutlich die entscheidende Herausforderung für die Wohlstandsgesellschaften im 21. Jahrhundert.

Das klingt fast nach einem quasi-religiösen Glaube.

Das ist auch so. Das Wirtschaftswachstum ist die unhinterfragte Conditio-sine-qua-non-Formel. Wie Angela Merkel es vor 15 Jahren einmal ausdrückte: Ohne Wachstum ist alles nichts. Das hat natürlich nichts damit zu tun, dass eine Wirtschaft ohne Wachstum nicht auch funktionieren kann, sondern viel eher damit, dass wir uns in den vergangenen Jahrzehnten so an das Wachstum gewöhnt haben, dass wir uns eine andere Welt nicht mehr vorstellen können. Die wirtschaftswissenschaftliche Politikberatung und die mediale Berichtserstattung über Wirtschaft haben ebenfalls eine nicht unerhebliche Rolle dabei gespielt, dass "Wachstum über alles" gilt.

Haben wir uns vom Wachstum zu abhängig gemacht?

Was unsere mentale Flexibilität angeht, sicherlich. Wir müssen uns nur anschauen, wie unsere sozialen Sicherungssysteme finanziert werden - nämlich durch Abgaben auf auch in Zukunft steigende Einkommen. Hier wäre ein Umsteuern angeraten, um zumindest die Staatsfinanzen etwas wachstumsunabhängiger zu machen. Steuern auf Vermögen und auf Umweltverbräuche sind hier die bessere Wahl als Steuern auf Arbeitseinkommen.

Wo liegen die Grenzen des Wachstums?

Ökonomisch sind wir seit der Wirtschaftskrise von 2008, immerhin der größten seit 1929, in anderen Wachstumszeiten. Die Weltwirtschaft wächst nicht mehr mit demselben Potenzial wie vor der Krise, und die Gefahr von ähnlichen Krisen in der Zukunft steigt. Allein schon aus verantwortungsethischer Sicht wäre es geboten, sich wachstumsunabhängiger zu machen. Das heißt nicht, dass man nicht weiterhin versuchen sollte, das Wachstum, das wir haben, zu begrünen und umweltverträglicher zu machen. Allein darauf zu setzen, dass es schon gelingen wird, Wachstum und Umwelt miteinander zu versöhnen, erscheint mir aber zu naiv und zu riskant.

Wie entkommen wir einer Welt, die sich dem Konzept derart verschrieben hat?

Der einfachste Weg ist ein dauerhaftes Ausbleiben von Wachstum aufgrund ökologischer und ökonomischer Begrenzungen - siehe Klimawandel, die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008. Also durch Krisen. Das ist kein angenehmer Weg, aber aus der Geschichte wissen wir, dass große gesellschaftliche Veränderungen meist durch Krisen ausgelöst werden. Der schwierigere Weg ist durch eine behutsame Entkopplung von Lebensqualität und Wachstum, durch einen Umbau der sozialen Sicherungssysteme in Richtung weniger Wachstumsabhängigkeit und, schlimmes Wort, einen Wertewandel, bei dem Wachstum nicht mehr wirtschaftlich gedacht wird, sondern einen Zuwachs an Wissen, Erfahrung, Freude, Freundschaft, Zufriedenheit bedeutet.

Wäre Postwachstum, das Verringern von Konsum und Produktion, eine Alternative zum derzeitigen System?

Mit der Postwachstumsökonomie gibt es einen ganzen Strauß an Konzepten, wie so eine neue Welt jenseits alter Wachstumszwänge aussehen kann. Da sind sicherlich keine Patentrezepte für alle unsere Probleme dabei, aber einige Grundüberzeugungen weisen in die richtige Richtung: nicht alles dem Markt oder dem Staat überlassen, sondern den dritten Sektor, die Zivilgesellschaft stärken; lokale Wirtschaftskreisläufe ermöglichen; Steuern auf sozial und ökologisch schädliches Verhalten erhöhen und auf erwünschtes Verhalten senken; alternative Berechnungsformen des Wohlstands in Staat und Wirtschaft einführen; soziale Sicherungssysteme vom Wachstum unabhängiger machen durch Umsteuern von Besteuerung auf Arbeitseinkommen in Richtung Vermögen und Umweltverbräuche; und ganz wichtig: nicht automatisch nach mehr Markt oder mehr Staat rufen, sondern die Menschen und ihre Gemeinschaften in den Vordergrund stellen.

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