Ende der Documenta 13:Und dazu Urmusik aus der Geierhöhle

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Literatur, Theater, Zoologie: Die Vielfalt der Disziplinen, die bei der 13. Documenta einbezogen wurden, scheint grenzenlos - fast alles war in Kassel ausstellungswürdig. Entwickelt sich die Schau so weiter, könnte sie sich zu einer Expo für Kunst-Schwellenländer degradieren.

Gottfried Knapp

Wenn man die Documenta 13 mit ihren Vorgängerausstellungen vergleicht, kommt man zu dem Schluss, dass die allmähliche Emanzipation der Welt-Kunstschau von den klassischen Idealen der bildenden Künste in diesem Jahr ihren Höhepunkt erreicht hat. Die Vielfalt der geistigen Disziplinen und gesellschaftlichen Erscheinungen, die derzeit in Kassel einer quasi musealen Präsentation unterzogen worden sind, dürfte nur noch schwer zu überbieten sein: Die Schwesterkünste Musik und Literatur, aber auch die benachbarten Medien Theater, Film und deren zeitgenössische Nachfahren mischen sich mächtig ein.

Documenta 1955 bis heute
:Gerne monumental

Auf der Documenta dürfen sich Kunstliebhaber auf neue Attraktionen aus der ganzen Welt freuen. Auf den bisherigen Ausstellungen gab es viel Herausragendes, vom Erdkilometer bis zur gigantischen Spitzhacke. Wie es die Kassler Megaveranstaltung zur wichtigsten Kunstausstellung der Welt gebracht hat.

Bildern.

Hermetisch verschlossene Wissenschaften werden herbeizitiert. Und wie beiläufig begegnet man Phänomenen der Botanik, der Zoologie, der Physik, der Chemie. Auch Medizin, Psychologie, Astronomie, Archäologie, Architektur und Mode tauchen in den Arbeiten motivisch auf. Ja wer sich während der 100 Tage auch nur einen andeutenden Überblick über die Orte der Ausstellung und über die zahllosen begleitenden Aktivitäten verschafft hat, der muss den Eindruck bekommen, dass hier nahezu alles, was den Verstand, die Sinne oder die Emotionen anzusprechen vermag, alles, was Neugier oder Leidenschaft erregen kann, hier als ausstellungswürdig empfunden worden ist. Und entsprechend unbelastet von traditionellen Kunst-Vorstellungen und unbehelligt von lähmenden Ansprüchen kann das in Massen strömende Publikum auf die Exponate reagieren.

Die ursprünglichen Gattungen der bildenden Künste - Malerei, Bildhauerei, Graphik - waren schon bei den letzten Documenta-Ausstellungen auf Rudimente reduziert. Für diese Ausgabe, die noch bis zum 16. September läuft, hat die Leiterin nur Malern und Bildhauern Einlass gewährt, die in beträchtlicher räumlicher oder zeitlicher Entfernung vom aktuellen mitteleuropäischen Kunstgeschehen arbeiten, sei es weil sie in einem fernen Winkel der Erde zuhause sind, sei es weil sie ein gewisses Alter erreicht haben oder gar gestorben sind.

Doch solche Einschränkungen müssen, wie die Resonanz des Publikums zeigt, nicht zum Schaden der Besucher sein. Dass die bewegenden autobiografischen Bild- und Text-Reflexionen der in Berlin geborenen Jüdin Charlotte Salomon aus den ersten Jahren der Hitler-Diktatur - Charlotte wurde 1943 im Alter von 26 Jahren in Auschwitz ermordet - nun im Fridericianum mit den vergleichbar spontan hinskizzierten Weltbeobachtungen und Bildassoziationen der 1946 geborenen Ägypterin Anna Boghiguian vereint sind, lässt die vielen jüngeren Arbeiten weiblicher Künstler in der Ausstellung, die vergleichbar dezidiert der eigenen Existenz gewidmet sind, in einem strengeren, historisch erhellten Licht erscheinen.

Worte-spuckende Automotoren, satirische Filmschleifchen

Und dass der heute 75-jährige Thomas Bayrle, der mit seinen suggestiven Vervielfältigungen graphischer Elemente schon auf die dritte und die sechste Documenta eingeladen war, nun auf der d 13 den größten Saal der Documenta-Halle zugeteilt bekommen hat, beschert dem Publikum eines der ergiebigsten Fotomotive der Schau: die acht mal dreizehn Meter ausladende Ansicht eines dynamisch kurvenden Flugzeugs; sie ist in sich aus abertausend handtellergroßen Miniausgaben der gleichen Flugzeug-Ansicht zusammengesetzt, die ihrerseits wiederum aus millimeterkleinen Flugzeugbildchen zusammencollagiert sind. Aber auch mit den sieben worte-spuckenden Automobilmotoren in der Halle, mit den anarchisch-satirischen Filmschleifen und den wirbelnden frühen Graphiktrickfilmen gibt Bayrle den Kunstwanderern aus der zeitlichen Entfernung von einigen Jahrzehnten einen Maßstab mit auf den Weg, der nur an wenigen Stellen eingelöst wird.

Auf dem Gebiet des plastischen Gestaltens muss der Argentinier Adrián Villar Rojas den Beweis, dass Skulpturen heutigen Besuchern noch etwas zu sagen haben, fast allein erbringen. Bei dieser herkulischen Arbeit leistet er Beachtliches. Was er auf den ruinös verwilderten alten Weinbergterrassen an hyperrealistisch durchgekneteten Mensch-Tierfiguren, an abstrakt geometrischen oder organisch wuchernden Gebilden zusammenkomponiert hat, kann man als ironisch getönte Anthologie all dessen erleben, was im 20. Jahrhundert zwischen Rodin, Serra und Gormley in den Raum gewuchtet, also auch in Kassel irgendwann gezeigt worden ist.

Einzigartiges Kunstvermischungskonzept

Dem Konzept der Ausstellungsmacher, bei der Auswahl der Künstler in ferngelegene Regionen auszuweichen und gleichzeitig möglichst viele unterschiedliche Wissensgebiete einzugemeinden, entspricht im Kleinräumlichen die Einbeziehung der Kasseler Museen und ihrer Exponate ins Programm der Schau. Immer schon musste die Documenta in bestehenden Museumsgebäuden gastieren, doch erst in diesem Jahr haben sich die Veranstalter um eine Symbiose zwischen dem, was sie in den Museen postieren wollten, und dem, was schon dort ist und für sich spricht, bemüht.

So hätte im Ottoneum, das ein Naturkundemuseum beherbergt und sieben Künstlern ein thematisch korrespondierendes Ambiente bietet, wohl ein gutes Fünftel aller diesjährigen Documenta-Beiträge die passende Nachbarschaft gefunden. Im wunderbaren Brüder-Grimm-Museum hat sich der bulgarische Konzeptkünstler Nedko Solakov zu einer bildnerisch-medialen Totalaufarbeitung eigener Ritterträume und zeitgenössischer Märchenvorstellungen anregen lassen.

In der mustergültig restaurierten Neuen Galerie aber führt der von Beuys 1976 mit Objekten der scheinbar widersprüchlichsten Art eingerichtete zentrale Saal höchst eindrucksvoll vor, wo das Installationswesen, das heute alle großen Kunstschauen der Welt dominiert, seine Anfänge hatte. Und dass man beim Auf und Ab im Südflügel des Kulturbahnhofs ohne Vorwarnung in das seit längerem dort eingerichtete Museum des Komponisten Louis Spohr stolpert, passt bestens ins Kunstvermischungskonzept der Documenta 13.

Im Astronomisch-Physikalischen Kabinett der Orangerie, diesem hoch spezialisierten Museum der Wissenschaftsgeschichte, kann die Documenta eine schöne Pointe setzen: Das von Konrad Zuse entwickelte "mechanische Gehirn", also die Urmaschine, aus der später der Computer entwickelt wurde, ist dort mit den avantgardistisch frechen Architekturaquarellen konfrontiert, die der junge Bauingenieur Zuse in den Zwanzigern gemalt hat, bevor er seine "Erfinderwerkstatt" einrichtete.

Auch bei der Erschließung neuer Ausstellungsorte im Stadtgebiet muss man dem Documenta-Team Entdeckerlust bescheinigen. So wurden im Umfeld des nur noch spärlich benutzten Haupt- und Güterbahnhofs mehrere Raumfolgen und Freiflächen neu zum Besetzen freigegeben.

Am schönsten ist die Poetisierung des prosaischen Unorts wohl der Schottin Susan Philipsz gelungen: Wer sich auf dem von ihr erwählten überlangen Bahnsteig bis hinaus ins offene Gleisgewirr begibt, der wird unter freiem Himmel mit einem Klangrätsel von magischer Weite und Tiefe belohnt: Aus 24 fern und nah im Gleisbett versteckten Lautsprechern schwingen Einzeltöne klassischer Instrumente in ruhig wechselndem Rhythmus so dem Zuhörer entgegen, dass man glaubt, über die eintreffenden Schallwellen den Tiefenraum nicht nur akustisch ausloten, sondern auch physisch spüren zu können.

Dass ein höhlenartig geschlossener Raum ähnlich suggestive Klangmomente bescheren kann, führt das Künstlerduo Allora & Calzadilla in den alten Bier- und Eiskellern unter dem Weinberg mit seinem Videofilm "Raptor's Rapture" vor. In einer Höhle vergleichbaren Ausmaßes bei Blaubeuren ist das älteste bekannte Musikinstrument der Menschheit gefunden worden, eine vor 35.000 Jahren aus dem hohlen Speichenknochen eines Gänsegeiers geschnitzte Flöte. Im Film hört sich ein lebendiger Gänsegeier ungerührt an, was eine neben ihm stehende Flötistin aus dem bleichen Knochen mit den vier sauber gebohrten Löchern an Geräuschen herausholt. Man hört viel wildes Schnarren und Schnauben, aber auch klare Einzeltöne, vertraute Intervalle und Andeutungen von Ur-Melodien, die jeden, der ein Verhältnis zur Musik hat, tief bewegen müssen.

Die Spannweite im Themenspektrum der Documenta lässt sich wohl kaum besser demonstrieren, als wenn man nach dem Erlebnis der Urmusik in der Geierhöhle das Hugenottenhaus in der Innenstadt durchstreift und in den Zimmern bestaunt, was die jungen Leute, die dort leben, unter der Leitung des amerikanischen Künstlers und Kulturanstifters Theaster Gates in den vergangenen Wochen geschaffen haben. Mit Abbruchmaterialien haben sie aus der Ruine ein bewohnbares Kunstwerk gemacht, in dem sich künstlerisch interessierte Menschen offenbar auf fast schon natürliche Weise zu Aktionsgruppen zusammenfinden.

Müsste man vor einem Gremium von Kuratoren den Rang der Documenta 13 definieren, würde schon eine Aufzählung der international hoch geschätzten Künstler genügen, die wichtige Arbeiten nach Kassel geschickt oder dort realisiert haben. Janet Cardiff & George Bures Miller wären hier zu nennen, oder William Kentridge, Tino Sehgal, Francis Alys, Tacita Dean oder Giuseppe Penone. Für Architektur-Freunde hat die Brasilianerin Renata Lucas, die gerne in bestehende Bauten kontrapunktisch eingreift, ein schönes Denkspiel parat. In den niedrigen Kellerräumen des Fridericianums und in drei weiteren Kellern in der Stadt hat sie die vier Ecken einer in Gedanken hoch über dem Documenta-Quartier aufsteigenden gigantischen Pyramide plastisch hineinmodelliert. Wie beim "Vertikalen Erdkilometer" Walter de Marias, der vom gleichen Platz aus erdeinwärts zielt, ist zu ebener Erde vom konzeptuellen Großmonument nichts zu sehen.

Winzige Lesebildchen, die Schmunzeln auslösen

Besondere Aufmerksamkeit hätte auch die stille Arbeit Roman Ondàks in der Neuen Galerie verdient. Beschäftigt man sich mit den vielen kleinen Schwarzweiß-Bildchen und den lakonisch erklärenden Texten darunter, die der Künstler aus einem Buch ausgeschnitten und zu neuen Einheiten kombiniert hat, dann ertappt man sich immer wieder, dass man beiläufig nickt oder irritiert den Kopf schüttelt; jedenfalls bringen die winzigen Lesebildchen im Kopf etwas in Gang, was feines Schmunzeln auszulösen vermag - und das ist angesichts der vielen platten politisch-sozialen Botschaften, die überall in der Ausstellung in Videofilmen und Aktionsdokumentationen verkündet werden, die reine Wohltat.

Vor allem im Park der Fulda-Aue kommt es zu einem Stau aufklärerischer Pamphlete, ökologischer und ethnologischer Manifeste. Nur wenigen dieser Arbeiten kann man ein gestalterisches Niveau bescheinigen, das einer Ausstellung des Kasseler Anspruchs entsprechen würde. Man fühlt sich an Fernsehsendungen wie das "Auslandsjournal" erinnert - mit dem Unterschied, dass die im Fernsehen gezeigten Beiträge sehr viel direkter und wirkungsvoller zur Sache kommen. Auch fragt man sich, warum so viele penetrant naturechte, forsttaugliche Holzhütten in den Park gesetzt wurden, wenn diese Ökoschreine am Ende wieder nur ein paar Videoschirme oder andere elektronische Anlagen beherbergen sollten.

Die Documenta 13 hat nach den expansiven Vorgängerausstellungen den Horizont der Weltkunstschau thematisch wie geographisch noch einmal deutlich geweitet. Doch das additive Prinzip hat hier auch schon seine Schwächen gezeigt und einige peinlich dünne Strecken im Parcours verursacht. Eine Weiterentwicklung in dieser Richtung könnte die Kasseler Schau zu einer Expo für Kunst-Schwellenländer degradieren. Von der in fünf Jahren fälligen 14. Ausgabe der Documenta wünscht man sich darum, dass sie wieder zu Themen zurückfindet, dass sie Maßstäbe zu setzen versucht - auf welchen Gebieten auch immer. Man kann darum der Stadt Kassel, die auch in diesem Jahr organisatorisch wieder Großes geleistet hat, nur Glück wünschen bei der Suche nach einem geeigneten Kandidaten für die Leitung.

© SZ vom 21.08.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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