Analyse zu "War on Terror" über Afghanistan:Gegengift

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Drohnenattacken, nächtliche Razzien: Emran Feroz schildert das Leid, das der Krieg gegen den Terror über viele Afghanen gebracht hat. (Foto: imago stock&people)

Emran Feroz' Buch "Der längste Krieg" ist bei Erscheinen bereits von dem Fall Kabuls überholt. Warum es sich dennoch lohnt.

Von Moritz Baumstieger

Natürlich erzielen diese Bilder starke Wirkung. Männer in Uniform halten schützend Babys in ihren Armen. Es passiert in diesen Tagen wohl mehrfach am Flughafen Kabul: Verzweifelte Eltern übergeben ihre Kinder an ausländische Soldaten. Letzte Hoffnung USA - Fotos wie diese, unter anderem von der amerikanischen Armee verbreitet, bilden ein letztes Mal das Narrativ ab, mit dem Washington und letztlich auch Berlin den Einsatz am Hindukusch begründeten: Die westlichen Truppen schützen die Zivilbevölkerung vor Terroristen, ihr aufopferungsvolles Tun bereitet den Grund, auf dem Menschenrechte, Demokratie und Frauenbefreiung gedeihen sollen.

Wer hier die akute Gefahr der Verkleisterung von Tatsachen durch propagandistischen Süßstoff fürchtet, findet in "Der längste Krieg" frisch angerührtes Gegengift. Der österreichische Autor Emran Feroz schreibt gegen die Verklärung an, mit der westliche Gesellschaften die Kriege betrachten, die sie nach dem 11. September 2001 begonnen haben.

Was als bittere Bilanz zu "20 Jahren War on Terror" geplant war, hat durch die Wiedereroberung von Kabul durch die Taliban eine noch dringlichere Aktualität bekommen. Die Geschehnisse in Afghanistan haben Feroz' Analysen zwar in guten Teilen bereits überholt. Antworten auf die Frage: "Wie konnte dieser Staat so schnell kollabieren?", die sich Politiker und Analysten, Geheimdienstler und Journalisten derzeit mit einiger Überraschung stellen, geben sie dennoch.

Emran Feroz: Der längste Krieg, 20 Jahre War on Terror, Westend, Frankfurt 2021, 224 Seiten, 18 Euro. (Foto: N/A)

Mit dem 11. September 2001, so schreibt es der Autor im Vorwort, wurde er wider Willen zum Afghanistan-Erklärer. "Emran, ihr seid doch aus Afghanistan", habe die Grundschullehrerin ihn vor versammelter Klasse gefragt. "Weißt du, warum die das gemacht haben?" Heute erklärt der 1991 geborene Feroz das Land beruflich, als Journalist und Autor, seit bald zwei Wochen auch häufig zugeschaltet als Interviewpartner im Radio oder bei Newssendern wie CNN.

Um schildern zu können, was andere nicht sahen oder nicht sehen wollten, musste Feroz keine Geheimdokumente auswerten und keine Whistleblower zum Reden bringen. Er reiste mehrfach für Recherchen durch das Land und beschäftigte sich konsequent mit vor allem zwei Themen, die in der Debatte zu Afghanistan immer wieder thematisiert wurden, ohne dass das letztlich zu einer ehrlichen Sicht auf die Lage im Land und das eigene Engagement dort geführt hätte: Zum einen arbeitet Feroz die immense Korruption der Eliten in Kabul und ihre Verstrickung in Kriegsverbrechen auf, die der Westen teils ignorierte, teils beförderte.

Feroz' Buch ist kein nüchternes Gutachten, sondern eine Anklage

Zum anderen schildert er das immense Leid, das der vermeintliche Krieg gegen den Terror bei jenen Menschen erzeugte, die er doch vorgeblich befreien sollte: Durch willkürliche Drohnenangriffe und nächtliche Razzien, durch systematische Folter und verbrecherische Übergriffe und Morde seitens Soldaten aus dem Westen und der von ihm aufgebauten lokalen Anti-Terroreinheiten. Wer hier vor allem an den Kreuzzügler George W. Bush, den Drohnenkrieger Barack Obama und die Machenschaften der CIA denkt, den erinnert Feroz an Kundus: Nach manchen Angaben bis zu 150 Menschen starben, als auf Anforderung der Bundeswehr 2009 zwei gestohlene Tanklaster bombardiert wurden. Die zivilen Opfer wurden nie entschädigt, der befehlende Oberst später zum General befördert.

Feroz' Buch ist kein nüchternes Gutachten, sondern eine Anklage, die mancher teils als zu scharf und ihrerseits einseitig empfinden wird. Stören werden sich einige Leser - vor allem in Ministerien und Medienhäusern - auch an Feroz' Furor etwa in Bezug auf die orientalistischen Sichtweisen, die er in der Afghanistanpolitik und der Berichterstattung über das Land wahrnimmt.

Dass Feroz' Standpunkte aber über den 31. August Relevanz haben werden, wenn der Westen seine Soldaten aus dem Land abgezogen haben wird, zeigt paradoxerweise die Aktualität, die "Der längste Krieg" in Teilen überholt hat. "In Afghanen wie Saleh fanden die Amerikaner das geeignete Personal für die Drecksarbeit", schreibt Feroz etwa über den bisherigen Vizepräsidenten, der zuvor ein mindestens skrupelloser Geheimdienstchef war. Nun organisiert Amrullah Saleh im Pandschir-Tal den bewaffneten Widerstand gegen die Taliban und wird als Held gefeiert. Wieder mal, das darf man getrost annehmen, wird der Westen nun offen oder verdeckt einen Mann unterstützen, den nicht wenige als Kriegsverbrecher ansehen und der schon deshalb kein friedliches Afghanistan wird aufbauen können. Der Einsatz der westlichen Soldaten im Land mag bald vorbei sein. Der "War on Terror" ist es nicht.

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