Büchner-Preis für Emine Sevgi Özdamar:Damit wird die Welt der deutschen Literatur endlich weit

Büchner-Preis für Emine Sevgi Özdamar: Keinen Tag länger hätte die deutsche Literatur ohne diese Schriftstellerin auskommen können: Emine Sevgi Özdamar, wohnhaft in Deutschland, Frankreich und der Türkei.

Keinen Tag länger hätte die deutsche Literatur ohne diese Schriftstellerin auskommen können: Emine Sevgi Özdamar, wohnhaft in Deutschland, Frankreich und der Türkei.

(Foto: Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag)

Die Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar bekommt den Georg-Büchner-Preis. Sie besitzt einen umwerfenden Humor für das Deutsche und seine Zumutungen.

Von Marie Schmidt

Lange schien sie verstummt zu sein. 18 Jahre kam kein Buch mehr, ihr enormes autobiografisches Projekt wirkte unterbrochen. Als man dann voriges Jahr endlich "Ein von Schatten begrenzter Raum" lesen konnte, Emine Sevgi Özdamars jüngsten Roman, hatte man das Gefühl, keinen Tag hätte die deutsche Literatur ohne diese Erzählerin auskommen dürfen. Ohne ihre mit den Dingen, Menschen, Tieren, Städten, Zeitstimmungen atmende Sprache, die nicht nur eine Sprache ist. Sondern eher eine körperliche Erfahrung, die sich schlank macht und gleich darauf dröhnend, weit schwingend und kurz knatternd wie eine Drum Machine. Eine Sprache, die durch das Türkische, das Griechische, das Französische gewandert ist und sich ausgerechnet ins Deutsche eingelebt hat.

Am Anfang dieses Romans sehen wir die Erzählerin, eine Frau mit allen biografischen Merkmalen der Autorin, auf einer Insel zwischen der Türkei und Griechenland sitzen und überlegen, ob sie emigrieren soll, wegen des Militärputschs in der Türkei. Sie berät sich mit ihrem Haus und den Tieren. Die Mosquitos sagen: "Für Deutschland ist der beste Türke in Wahrheit der als Türke verkleidete Deutsche." Die Krähen sagen: "Du wirst dich schämen, weil du dauernd ein Thema bist. Kein Mensch mehr, ein Thema." Und die Wände sagen: "Leb hier mit deiner großen Kindheit, mit deinen Toten, und stirb später bei deinen Toten." Die Frau sagt: "Ich werde gehen", und in dem langen Roman ist es, als schreite sie die üblen Prophezeiungen ihrer Mitwesen ab.

Nach dieser mythischen Einleitung erzählt Emine Sevgi Özdamar vergleichsweise sachlich weiter, wie sie zum zweiten Mal nach Deutschland kam. Das erste Mal, 1965, war sie als Vertragsarbeiterin in West-Berlin gewesen und hatte bei Telefunken Radiolampen zusammengesetzt. Das kommt auch in ihrem zweiten Roman "Die Brücke vom Goldenen Horn" von 1998 vor. Inzwischen hatte sie ein Schauspielstudium in Istanbul hinter sich und kam 1975, um das Brecht-Theater zu lernen, lebte in West-Berlin und arbeitete in Ost-Berlin an der Volksbühne mit Benno Besson und Matthias Langhoff. Vom Glück dieser Theaterjahre handelt "Ein von Schatten begrenzter Raum" und davon, wie sie dabei eine deutsche Schriftstellerin wurde.

Der Preis kommt von einer Institution, die nicht im Verdacht des Progressiven steht

Wenn man in die Zeitungsarchive steigt und die Berichterstattung über ihre ersten Erfolge durchgeht, hört man Özdamars Krähen und Mosquitos "siehste!" sagen. Da ist eine Exotisierung am Werke und gleichzeitig die erdrückende Hoffnung, das "frische Blut" einer Autorin aus dem Ausland müsse der blassen deutschen Literatur irgendwie Farbe geben. Angesichts dieser Ausgangslage hätte man sich nicht zu wünschen gewagt, was jetzt doch passiert ist: 2022 bekommt Emine Sevgi Özdamar mit dem Georg-Büchner-Preis die namhafteste aller Auszeichnungen für deutsche Literatur. Und steht damit als Gleiche unter Gleichen in einer Liste, die mit Gottfried Benn begann und über Günter Grass, Christa Wolf, Wilhelm Genazino und Terézia Mora in die Gegenwart führt.

Die Anerkennung kommt von einer Institution, die nicht im Verdacht steht, sich in progressiven Gesten zu gefallen. Ernst Osterkamp, der Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, betonte bei der Verleihung 2021 an Clemens J. Setz, dass keine Journalisten und Kritikerinnen in der Jury sitzen. Schon gar keine Buchhändler, wie beim Deutschen Buchpreis. Es entscheiden Schriftstellerinnen und Literaturwissenschaftler, die der Akademie angehören. Will sagen: Hier wird keine Politik gemacht, hier geht es allein um Literatur.

Und Emine Sevgi Özdamars Romane, besonders der jüngste, enthalten enorme Archive einer vielsprachigen Literatur: Nâzım Hikmet und Arthur Rimbaud, Else Lasker-Schüler und Can Yücel, Ece Ayhan, Wolfgang Hilbig und immer wieder Bert Brecht sind ihre Gefährten und die Gedichte, Stücke, Bücher ihre Wohnungen: "Wenn man von seinem Land einmal weggegangen ist, dann kommt man in keinem neuen Land mehr an. Dann werden nur manche besonderen Menschen dein Land", heißt es in "Ein von Schatten begrenzter Raum".

Immer wieder fragt sich die Erzählerin: "Wo wohnen Sie, Madame?" Und manchmal ist es eben nur der Schatten der eigenen Gliedmaßen auf dem Fußboden, der ihre "eine Daseinsmöglichkeit" gibt. Manchmal ist es der anarchische Raum des Theaters der Siebzigerjahre. Und manchmal Leute: "Wo wohnen Sie, Madame? In Franz Xaver Kroetz / In Herbert Achternbusch / In Rainer Werner Fassbinder / In Heinrich Böll / In Wolfgang Neuss / In Rosa von Praunheim / In Thomas Brasch / In Hannah Arendt / Danke dir, Mond über Deutschland, dass du all diesen Menschen deine Lichter gabst."

Die Rollen, die man ihr aufdrängen will, modelt sie um. Zum Beispiel: die Putzfrau

Mit Emine Sevgi Özdamar bekommt eine Schriftstellerin den Büchner-Preis, deren Kanon eine Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung brauchen kann. Die aber darüber hinaus bis heute einen umwerfenden Humor hat für das Deutsche und seine Zumutungen. Die Rollen, die man ihr zunächst aufdrängen wollte, eignete sie sich an und feudelte in verschiedenen Theaterstücken stumm die Bühne. "Du verscheißerst als türkische Putzfrau mein Stück, sehr gut, sehr gut", sagt Thomas Brasch zu ihr in "Ein von Schatten umgrenzter Raum". Dann bekam die Figur einen langen Monolog in einem von Özdamars ersten Theatertexten: "Ich bin die Putzfrau, wenn ich hier nicht putze, was soll ich denn sonst tun? In meinem Land war ich Ophelia", heißt der erste Satz. Den Untertitel zu diesem Stück hat Heiner Müller gestiftet, erzählt sie: "Erinnerungen an Deutschland".

Dann allerdings hat Emine Sevgi Özdamar den Humor doch einmal verloren. 2006 tauchte plötzlich eine Liste in deutschen Feuilletonredaktionen auf. Eine Germanistin, die anonym bleiben wollte, hatte viele Stellen in Feridun Zaimoglus gerade erschienenen Roman "Leyla" entdeckt, die solchen in Özdamars ersten Roman glichen. Das Buch mit dem Titel "Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus" war 1992 erschienen, Zaimoglu behauptete, er habe es nie gelesen. Die Literaturkritik mühte sich wahlweise investigativ und philologisch ab, konnte aber nicht herausfinden, was geschehen war. Der damals beiden gemeinsame Verlag Kiepenheuer & Witsch wollte es nicht zu einem Rechtsstreit wegen Plagiats kommen lassen. Heute ist Özdamar Autorin bei Suhrkamp.

Damals einigte man sich im Literaturbetrieb auf die faule oder wie man heute deutlicher sagen würde: rassistische Lesart, da müsse es eben verborgene kulturelle Verbindungen geben, besonders "türkische" Bildwelten, die sich unwillkürlich wiederholten, es handele sich ja eigentlich um eine "türkische Familienaffäre: Zaimoglu gegen Özdamar". Das hat Emine Sevgi Özdamar so erbittert, dass sie lange Jahre nicht geschrieben hat: "Damals bekam ich plötzlich Angst vor der deutschen Sprache", heißt es im Roman, an dessen Ende die verschlüsselt beschriebene Episode vorkommt: "Ich wollte nicht mehr auf Deutsch schreiben."

Im vergangenen Jahr hat sie eine ganze Reihe von Preisen für "Ein von Schatten begrenzter Raum" bekommen, darunter den Bayerischen Buchpreis und den Düsseldorfer Literaturpreis. Mit dem Georg-Büchner-Preis erfährt sie ein weiteres Stück der Anerkennung ihrer einsamen Größe, die ihr gebührt. Hoffentlich ist das eine Versöhnung mit der deutschen Sprache wert.

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