Günther Anders' Buch "Der Emigrant":Sturz in die Unsichtbarkeit

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Günther Anders und Hilmar Hoffmann, 1983

"Von Umwelt zu Umwelt gestoßen": Günther Anders (li.) 1983 bei der Verleihung des Theodor-W.-Adorno-Preises der Stadt Frankfurt am Main.

(Foto: dpa)

Günther Anders' Philosophie der Emigration ist so schmerzhaft scharfsinnig wie deprimierend aktuell.

Von Helmut Mauró

Es ist auch eine Philosophie des Schmerzes, die sich Günther Anders von der Seele schreibt. Erst nach und nach wird dem Schriftsteller und Philosophen ("Die Antiquiertheit des Menschen") dabei etwas leichter, aber ganz verschwindet der Schmerz nie. Anders leistet harte Trauerarbeit, nicht nur für sich, nicht einmal nur für die Opfer, sondern im Grunde auch hilfestellend für die Täter. Es ist das Herausgerissensein nicht nur aus vertrauter Umgebung, sondern, wie Anders es zuspitzt, die Verweigerung der Lebenseinheit, die den Emgiranten - so der Titel des nun wiederaufgelegten Essays aus dem Jahr 1962 - in die Unsichtbarkeit stürzt, seine Existenz zerrüttet. Denn wenn die Lebensgeschichte solche Haken schlägt wie bei dem, der "von Umwelt zu Umwelt gestoßen" ist, dann versagt auch die Erinnerung. Dann bleibt von dem Lebensabschnitt in der Fremde nur ein blinder Fleck, keine Erfahrung, die Teil des eigenen Lebens wäre.

Dieser Zeitabschnitt ist dann nicht mehr in direkter Linie sichtbar, die man zurückverfolgen könnte, sondern steht in einem spitzen Winkel davon ab. "Denn wenn ein Lebenslauf, gleich ob durch ein Damaskus oder durch eine Kristallnacht, abreißt, und wenn das weitergehende Leben genötigt wird, sich mit völlig neuen Inhalten anzufüllen, mit Inhalten, die auf die Zeit 'ante' nicht verweisen, dann wird dieses mit neuen Inhalten saturierte Zeitstück nicht mehr als eine Verlängerung der diesem vorangehenden Zeit aufgefasst, sondern als ein vom bisherigen Wege in mehr oder minder spitzen Winkel abbiegender neuer Weg, wenn nicht sogar als ein, gewissermaßen durch 'Teilung' entstandener, neuer Organismus mit eigenem Kopf und eigenem Schwanz."

Eigentlich muss es heißen "Cogitor ergo sum" - man denkt an mich, also bin ich

An Paris, schreibt Anders, konnte er sich nur noch unzulänglich erinnern, nachdem er die nächste Station, New York, erreicht hatte, und seit er in Wien lebe, seien ihm die gewohnten Orte in Los Angeles "im tiefen Dunkel". Keiner der Menschen, mit denen er dort gearbeitet hatte, sei ihm noch namentlich bekannt, die Gesichter allesamt vergessen. "Der Blick um die Zeit-Ecke ist noch weniger durchführbar als der um die Raum-Ecke; Zeitperiskope sind noch nicht erfunden."

Letztlich ist das Exil eine Art Entkoppelung des Individuums von sich selbst. Denn dieses Selbst bedarf einer Umwelt, die als Konstante wahrgenommen werden kann. Zu dieser Umwelt gehören natürlich auch Menschen, und so müsste der im Leben faktisch geltende Seinsbeweis nicht das Cartesische "Cogito ergo sum" sein, sondern ein "Cogitor ergo sum" - man denkt an mich, also bin ich. Allerdings sei dieser Satz so selbstverständlich, dass er nie ausgesprochen werde.

Günther Anders' Buch "Der Emigrant": Günther Anders: Der Emigrant. C.H.Beck, München 2021. 86 Seiten, 10 Euro.

Günther Anders: Der Emigrant. C.H.Beck, München 2021. 86 Seiten, 10 Euro.

In konsequenter Verzweiflung verweist Anders in diesem Zusammenhang darauf, dass die Verfolgung - in der Heimat, müsste man ergänzen - zwar eine infernalische Variante dieses Seinsbeweises sei, aber auch aus dem "Man ist hinter mir her" ergäbe sich ja noch ein letztes "Also bin ich". Auch der Verfolger denkt an den Verfolgten, wenn auch nur, damit es den Verfolgten nicht mehr gebe. Aber auch dieses "skandalöse Minimum an Bestätigung" ging bald verloren, denn bald wandelten die Verfolgten in Nazi-Deutschland zwischen "Millionen, die uns als Luft behandelten". Und so wurden sie Luft.

Anders entwirft es noch anschaulicher, beschreibt, wie man an irgendeiner Ecke der Stadt stehen bleibt und auf einmal merkt, dass die Rufe und Geräusche dieser Stadt für andere gedacht sind. Dass man selber gar nicht mehr dabei ist und folglich gar nicht mehr da ist. Die Emigrations-Suizide haben diesen Existenzverlust nur besiegelt. Sie seien "an Weltlosigkeit und Sozialhunger eingegangen", schreibt Anders.

Es ist viel poetisch kondensierte Wut und Trauer in diesem Text, aber auch beinahe zynischer Scharfsinn. Etwa in der Begutachtung der "Berufsemigranten", die den Zustand des Emigranten-Seins auch dann gewählt hätten, wenn sie in der Fremde mit offenen Armen in Empfang genommen worden wären, und jener, die sich in der Fremde sofort assimlierten. Anders äußert zwar Verständnis für sie, die diese soziale Geborgenheit suchten, denn keiner hält es lange aus, überflüssig zu sein. Aber dieses Verstehen verdeckt kaum seine Verachtung für diese "Kleinbürger und Kleinstädter unter uns, die sich reservelos der Fremde an den Hals warfen, die sich nach vierzehn Tagen als alte Pariser aufspielten oder als geborene New Yorker". Und ist es nicht verblüffend aktuell genau das, was wir von Einwanderern fordern, dann aber so doch nicht gemeint haben wollen?

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