Süddeutsche Zeitung

Emanzipation:Leiden an der Lebenswelt

Eine Berliner Tagung widmet sich der Geschichte des Begriffs "Emanzipation" von den alten Römern über die Studentenproteste von 1968 bis heute.

Von Lothar Müller

Aus der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie stammt der Satz des jungen Marx: "Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift". Darin steckt der Gedanke, dass Begriffe Waffen sind. Man kann ihn als Teil des Projektes verstehen, den philosophischen Idealismus vom Kopf auf die Füße zu stellen. Aber die Energie, die den berühmten Satz hervorgebracht hat, entstammt nicht nur der Kritik des Idealismus. Sie ist zugleich Wunschenergie, vorangetrieben von einem sehr alten Element des Denkens, das in den Schriften des jungen Marx herumspukt, ohne je seine Tarnkappe abzulegen und sich zu erkennen zu geben. Dieses Spukwesen ist die Sprachmagie. Ähneln nicht Begriffe, die - Knüppel aus dem Sack - zu Waffen werden, den Figuren aus Märchen, die sich blitzschnell verwandeln, und den Zauberworten, die knapp eine Generation vor Marx der Romantiker Novalis beschwor? "Dann fliegt vor Einem geheimen Wort /Das ganze verkehrte Wesen fort."

Warum verbringen Hunderte vorwiegend junge Menschen einen wunderschönen, warmen Sommerabend in Berlin damit, auf der im Haus der Kulturen der Welt stattfindenden Eröffnungsveranstaltung des Mammut-Kongresses "Emanzipation" über fast vier Stunden hinweg den überwiegend hochgelehrten Explikationen eines Begriffs zu folgen? Die Veranstalter, Sabine Hark vom Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Genderforschung an der TU Berlin, Rahel Jaeggi, Direktorin des Center for Humanities & Social Change an der Humboldt-Universität zu Berlin, Kristina Lepold, Sozialphilosophin an der Frankfurter Goethe-Universität und Thomas Seibert vom "medico international", hatten die international besetzte Tagung ausdrücklich in den Echoraum "50 Jahre 1968" gestellt. Und gleich zu Beginn stürmten studentische Mitarbeiter der HU auf die Bühne, um größere Anerkennung und bessere Entlohnung zu fordern. Sie ernteten frenetischen Applaus, wenn auch keine konkreten Zusagen im Grußwort ihrer Universitätspräsidentin Sabine Kunst. Die Beschwörung des Datums "1968" signalisierte Aufbruch und Bewegung, die Eignung des Begriffs "Emanzipation" als Zauberwort, vor dem das ganze verkehrte Wesen fortfliegen möge: "dass Begriff und Sache der Emanzipation heute massiv unter Druck stehen, ist Anlass wie Leitmotiv der Tagung".

Die Dialektik der Emanzipation: Sie bringt aus sich selbst heraus neue Herrschaftsformen hervor

Schnell war dann auf dem Podium die große Linie der Begriffsgeschichte gezogen. Sie führt vom römischen Ursprungssinn, in dem Emanzipation die Entlassung eines Kindes aus der Gewalt der Eltern oder des Sklaven aus der Gewalt seines Herrn meint, zum modernen Projekt der Emanzipation als Selbstbefreiung und Transformation der gesamten Ordnung, innerhalb derer sie erfolgt. Rahel Jaeggi, Professorin für Praktische Philosophie, schlug sich ganz auf die Zauberwort-Seite des Begriffs, beschwor in der Tradition des jungen Marx die Emanzipation als normativen Horizont der weit über die ökonomische Befreiung hinausgehenden Aufhebung aller Herrschaftsverhältnisse. Die aktuelle Pointe war die Zurückweisung des Arguments, die politische Linke habe die Sphäre der Ökonomie zugunsten der Konzentration auf Identitätsfragen vernachlässigt. Zuvor hatte schon Seyla Benhabib, Professorin für Politische Philosophie in Yale, in einem historischen Parforceritt, der von der Kritischen Theorie über Foucault bis Derrida führte, dafür geworben, gegen alle Anflüge von "linker Melancholie" an der Emanzipation als Schlüsselbegriff sowohl eines "Kosmopolitismus ohne Illusion" wie des aktuellen Feminismus festzuhalten. Je vielfältiger er theoretisch werde, desto besser geeignet, auch im Zeitalter der Globalisierung die Veränderungsenergien, die dem "Leiden an der Lebenswelt" entspringen, zu bündeln.

Von einem Fortschrittsmodel, in dem Emanzipation ein Fluchtpunkt der Geschichte wäre, wollte niemand mehr etwas wissen. Der Schriftsteller Didier Eribon zog im Blick auf das unglückliche Leben und den Tod seiner zur Wahrnehmung ihrer Interessen unfähigen Mutter in einem Pflegeheim die Vorstellung der Selbstbefreiung radikal in Zweifel. Wendy Brown, Professorin für Politische Theorie und Genderforschung in Berkeley, sah in ihrem düsteren Vortrag das Zauberwort Emanzipation aller seiner Kräfte durch den Erfolg des Neoliberalismus und seine Usurpation des Freiheitsbegriffs beraubt. Es bleibe angesichts der Entwertung aller Werte und des Zynismus der Kapitalverwertung nichts, als von der Rhetorik der Emanzipation Abschied zu nehmen. Christoph Menke, der Philosophie in Frankfurt am Main lehrt, beließ es nicht bei dem Szenario, in dem die Emanzipation stärkeren Mächten unterliegt. Er sprach über die Dialektik der Emanzipation und konstatierte lapidar, dass sie aus sich selbst heraus immer neue Herrschaftsformen hervorbringt. Die aktuellen Kontrollmechanismen brechen über die Individualisierungs- und Liberalisierungsschübe seit 1968 nicht von außen herein, sie stellen, was damals Emanzipation hieß, in ihren Dienst. Zum Streit darüber war dieses Podium nicht aufgelegt. So war am Ende das Zauberwort sowohl bekräftigt wie entzaubert.

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SZ vom 28.05.2018
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