Emanuele Coccia: "Das Zuhause":Im Bett suchen wir unser Ich jeden Morgen wieder neu zusammen

Emanuele Coccia: "Das Zuhause": Das Haus zur Philosophie: Das vielbeachtete Mailänder Gebäude "Bosco Verticale" (vertikaler Wald) des Architekten Stefano Boeri, einem Freund Emanuele Coccias.

Das Haus zur Philosophie: Das vielbeachtete Mailänder Gebäude "Bosco Verticale" (vertikaler Wald) des Architekten Stefano Boeri, einem Freund Emanuele Coccias.

(Foto: MIGUEL MEDINA/AFP)

Der italienische Philosoph Emanuele Coccia findet, dass sich sein Fach bislang nicht genug mit dem Ort befasst hat, an dem das eigentliche Leben stattfindet: dem Zuhause.

Von Thomas Steinfeld

Gegen Ende der Neunzigerjahre lebte Emanuele Coccia, damals Student der Philosophie, in Berlin. Eine Wohnung fand er im Osten, die Toilette wurde von zwei Mietparteien geteilt und befand sich, ungeheizt, auf dem Treppenabsatz. Ein Badezimmer gab es nicht. Doch war eine Duschkabine in der Küche aufgestellt. Coccia macht keinen Hehl daraus, dass das Leben unter diesen Bedingungen mühsam war, zumal im Winter.

Zugleich aber berichtet der Autor, der inzwischen längst Professor für Philosophie in Paris ist, von dieser Erfahrung als von einem "surrealen Traum": Die Aufteilung von Wohnungen gehorche seit vielleicht 100 oder 150 Jahren einer "Organprojektion", erklärt er, in der nicht nur den einzelnen Funktionen des Körpers separate Räume zugewiesen werden, sondern in der diese Funktionen auch eine psychisch separate Qualität gewinnen. Nur in diesem Ineinander von physischer Realität und moralischer Disposition lasse sich verstehen, warum das Badezimmer die historisch letzte Errungenschaft des Wohnens wurde, und nur so erschließe sich, warum es ein solches "Privates im Privaten" überhaupt gebe: als "Schauplatz von Handlungen, die im übrigen Zuhause unmöglich" seien, und als einziger Raum, in dem man sich einschließen könne. In Berlin hatte er ein anderes Wohnen kennengelernt.

Coccia möchte ein Lehrer des Glücks sein

Der Essay über das Badezimmer gehört zu einer Reihe von zwölf kurzen Traktaten, die den Hauptteil eines neuen Buches bilden, das auf Deutsch den Titel "Das Zuhause. Philosophie eines scheinbar vertrauten Ortes" trägt. Auf Italienisch heißt das Werk, etwas anspruchsvoller: "Filosofia della casa. Lo spazio domestico e la felicità". Das "Glück" ist in der Übersetzung verlorengegangen. Doch spielt es, als Gegenstand und als Versprechen, eine entscheidende Rolle: zum einen, weil Coccia die private Wohnung als den Ort beschreibt, auf den sich die Hoffnungen auf ein erträgliches Dasein zentrieren, zum anderen, weil er ein Lehrer des Glücks sein will.

Das Badezimmer, fordert er am Ende des Traktats, solle kein Ort der Trennung, sondern ein Raum der "Begegnung von Körpern" sein. Lieber nicht, möchte man an dieser Stelle rufen, überzeugt davon, dass das Alleinsein bei intimen Verrichtungen eine zivilisatorische Errungenschaft und das "Erlebnisbad" ein alberner Einfall der Hersteller von sanitären Anlagen ist. Gleichwohl: Coccia legt zunächst dar, dass eine Wohnung eine "moralische Realität" sei. Und kein Zweifel: Damit hat er recht.

Emanuele Coccia: "Das Zuhause": Die Wohnung ist für ihn eine "moralische Realität": Emanuele Coccia, geboren 1976, lehrt Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

Die Wohnung ist für ihn eine "moralische Realität": Emanuele Coccia, geboren 1976, lehrt Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

(Foto: Peter Hassiepen | Munich)

In der Folge wandert der Philosoph durch die Zimmer. Beim Umzug kommt er auf die Idee, dass jede Wohnung, die man von einem anderen Bewohner übernimmt, eine psychische Qualität besitzt, die man sich erst aneignen muss. Am Fernseher fällt ihm auf, wenig überraschend, dass in diesem Gerät die Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit aufgehoben wird. Coccia öffnet die Kleiderschränke und findet dort das "konfektionierte Selbst". Das Bett wird ihm zum Instrument der Selbsterfahrung, in dem er jeden Morgen sein Ich wieder neu zusammensuchen muss. Und die Küche, der zentrale Lebensraum, erweist sich als "Transformationsspirale, in der pflanzliche und tierische Arten einander durchdringen und verändern". Draußen ist die Stadt, ein Ort, an dem, wie Coccia behauptet, nur Obdachlose tatsächlich leben. Drinnen aber haust der Mensch, in einem fortwährenden In- und Miteinander nicht nur mit seinesgleichen, sondern auch mit Pflanzen, Tieren und vor allem Dingen. Sich von diesem eigentlichen Ort des Lebens keinen hinreichenden Begriff gemacht zu haben, sei ein schwerwiegendes Versäumnis der Philosophie.

So ganz stimmt das natürlich nicht. Zu Martin Heideggers Vortrag "Bauen Wohnen Denken" aus dem Jahr 1951 und dem darin entfalteten Konzept von der "eigentlichen Wohnungsnot" gibt es eine ganze eigene Rezeptionsgeschichte. Dazu gehört etwa der norwegische Architekt Christian Norberg-Schulz, der in seinem Buch "Genius Loci" (1979) die Orientierungslosigkeit des rationellen Wohnens mit einem modernen Nomadentum zusammenbrachte. Und der italienische Philosoph Massimo Cacciari sprach im Jahr 1980 von einem Bauen, das sich so von der Architektur getrennt habe, dass von einem Wohnen im eigentlichen Sinne - als ein Leben in Frieden oder ein Zuhause-Sein - nicht mehr die Rede sein könne. Coccia in seinem Essay über die Geschichte seines Anliegens ebenso hinweg, wie ihn die Geschichte seines Gegenstands nicht interessiert: Kein Wort über das Verhältnis von Wohnung und Kleinfamilie, kein Wort über das Bürgertum und sein Interesse an der Repräsentation und vor allem kein Wort über den Zusammenhang von Wohnen und Einkommen.

Mit Mittelpunkt hier die Porosität und die Wandelbarkeit der Dinge

Stattdessen tut Coccia, was er schon in seinem Buch über die Pflanzen ("Die Wurzeln der Welt", 2018) und in seinem Werk "Metamorphosen" (2021) tat: Er räsonniert freihändig über einen Gegenstand, der ihm vor Augen liegt. Und als wäre ihm die gesamte neuzeitliche Philosophie gleichgültig, denkt er dabei nicht in Elementen (die Geschichte des Privaten wäre ein solches Element), sondern in Substanzen (das Tier, das sich in der Küche in einen Braten verwandelt). Welche Substanz in diesem Verhältnis das Subjekt bildet und welche das Objekt, beschäftigt ihn viel weniger als die Bewegungen zwischen den Gestalten, ihre Porosität und ihre Wandelbarkeit. Mit anderen Worten: Er behandelt das Wohnen wie ein Alchemist seine Stoffe und deren Reaktionen. Manchmal übertreibt er dabei etwas, zum Beispiel in seiner Theorie vom "Stein der Weisen": Weil die gesamte Umgebung des Menschen aus Steinen oder deren Derivaten bestehe, vom Haus über das Automobil bis zum Computer, habe die Steinzeit nie aufgehört - was aber geschehen müsse, wenn "wir" (wer immer das sein mag) ein Zuhause finden wollen.

Emanuele Coccia: "Das Zuhause": Emanuele Coccia: Das Zuhause. Philosophie eines scheinbar vertrauten Ortes. Aus dem Italienischen von Andreas Thomsen. Hanser Verlag, München 2022. 162 Seiten, 22 Euro.

Emanuele Coccia: Das Zuhause. Philosophie eines scheinbar vertrauten Ortes. Aus dem Italienischen von Andreas Thomsen. Hanser Verlag, München 2022. 162 Seiten, 22 Euro.

Die Alchemie hat allerdings den Vorteil, eine eher unsystematische Form der Naturforschung zu sein und doch gelegentlich Brauchbares hervorzubringen. So wurde etwa das europäische Porzellan erfunden. In Coccias Substanzenlehre geht es ähnlich zu: in dem Gedanken etwa, dass das Konzept der Stadt seinen Höhepunkt überschritten habe, weil deren Bewohner ihre Gehäuse nicht mehr verlassen. Sie bleiben an die Gerätschaften der Kommunikation gebunden. Oder in seiner Kritik am Darwinismus: Es sei nicht erwiesen, dass die Evolution stets zum Besten der Spezies ausschlage. Oder in seiner Theorie der Zimmerpflanze: Es gebe sie weniger, um die Natur in die eigenen vier Wände zu holen, als vielmehr, weil ein wirkliches Zuhause die Eigenschaften einer Pflanze entwickle, von den Wurzeln bis zu den Blättern. Das passende Haus dazu hat der Architekt Stefano Boeri, ein Freund des Philosophen, in Gestalt des "Bosco Verticale" (des "vertikalen Walds") in Mailand gebaut.

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