Boxsets von Elton John, Elvis Costello, U2:Letztes großes Aufgebot des Pop

Elton John

Seit Jahrzehnten souverän mit aufwendigen Sammlungen: Elton John im Jahr 1974.

(Foto: D. Morrison/Getty Images)

Teure Sammlerboxen fluten den Markt. Hübsch. Aber eigentlich braucht die kein Mensch, oder?

Von Joachim Hentschel

1967 oder '68 muss das Londoner Modeviertel Soho ein toller Ort für private Flegeljahre gewesen sein, zum Beispiel für die zwei Pop-Kreativen Reginald Dwight (damals Anfang 20) und Bernie Taupin (noch jünger). Dwight, der später unter dem Namen Elton John weltberühmt wurde, war der Komponist, Pianist und Sänger. Taupin dichtete die Texte. Als unschlagbares, hungriges Duo arbeiteten sie für den Dick-James-Musikverlag in der Charing Cross Road, saßen in Paisley-Hemden und marokkanischen Mänteln im Lancaster Grill, erschacherten sich Studio- und Live-Jobs bei den Großen, scheiterten, siegten, liefen sich warm.

Dwight und Taupin schrieben vor allem Radioschnulzen, Beat-Stoff und hohe Poesie für andere Künstler. Sie lieferten der Sängerin Lulu einen Beitrag für den Eurovision Song Contest, der im Vorentscheid gekippt wurde. Nahmen Material für ein eigenes, LSD-befeuchtetes Album mit dem Titel "Regimental Sgt. Zippo" auf, das nie erschien. Elton John wurde dann zum Weltstar und hat bis zuletzt mit Taupin im Werkstattduett gearbeitet. Aber die unzähligen Demobänder und plattenreifen Songs von damals, sie blieben unter Verschluss.

Bis jetzt. Und wer nicht glauben will, dass es im schon so gnadenlos ausgeschürften Archiv der Popmusik noch echte, ungehobene Schätze geben könnte, dem wird beim Hören von "Jewel Box" der Diamantentester aus der Hand fallen. Die Edition mit acht CDs enthält unter anderem 60 Songs aus Elton Johns frühen Jahren, großteils sensationell gute Aufnahmen, die hier zum ersten Mal offiziell zu hören sind. "When The First Tear Shows" zum Beispiel, eine im vollen Motown-Sound arrangierte, heiß an die Nieren gehende Soulballade. Oder das mit brillant simulierter Altersweisheit am Klavier gesungene "The Tide Will Turn For Rebecca". Oder eine Arbeitsversion von "Razor Face", die John mit einer Monty-Python-Imitation anmoderiert.

Boxsets von Elton John, Elvis Costello, U2: Ungehobenes aus den Flegeljahren: Elton John, Anfang der 70er-Jahre, mit dem britischen Regisseur Bryan Forbes (l.).

Ungehobenes aus den Flegeljahren: Elton John, Anfang der 70er-Jahre, mit dem britischen Regisseur Bryan Forbes (l.).

(Foto: Anonymous/AP)

Natürlich findet man das alles jetzt auch auf den gängigen Streaming-Plattformen, aber die "Jewel Box" ist anders gemeint. Wer die knapp einhundert Euro ins Produkt investiert, bekommt zusätzlich zu den CDs ein Museumsshop-reifes Buch mit Fotos, Texten und Faksimiles, sozusagen den Kontext, den ästhetisch-historischen Apparat, ohne den man die insgesamt 148 Songs umfassende Kopplung eigentlich nicht verstehen kann. Dass einem die Plattenfirma, neben weiteren Raritäten aus Johns späteren Jahren, im Paket auch ein paar regulär erhältliche Stücke andreht, ist das Einzige, was an diesem grandiosen Musik-Boxset stört. Was auch an der neuen Bedeutung derartiger Kompilationen liegt.

Boxsets, auch wenn sie eigentlich keine Schachteln sind, begannen als Trend Mitte der Achtziger. Das Medium CD war endgültig etabliert, die Produktperspektive erweiterte sich, und niemand musste sich mehr an die verbraucherfreundliche Längenvorgabe des Doppelalbums halten. Heute, in einer Zeit, in der die Bedeutung physischer Tonträger weiter schrumpft, spielen die Sets eine neue Rolle. Sie tragen die Aura von Luxusprodukten, werden also gezielt für Spezialisten und Sammler gestaltet. Und wirken dabei oft wie der letzte Ausweg der Industrie, um traditionell gelaunte Kunden - die an wirklich neuen Produkten kaum mehr Interesse haben - noch zum Geldausgeben zu bewegen.

200 Euro für elf Platten? Vom Kilopreis her gerechtfertigt

Speziell in den vergangenen Wochen kamen daher einige Sammlungen auf den Markt, die in Umfang, Ausstattung und Preis auch die letzten Sinngrenzen sprengen.

So erschien mit "1969" eine gigantische Box der Progressive-Rock-Band King Crimson, die auf 20 CDs, vier Blu-ray-Discs und zwei Audio-DVDs die Studio-Sessions und Konzerte des einen Jahres 1969 dokumentiert - bis hin zu den Mikrofontests einzelner Instrumente. Die Deluxe-Version von Elvis Costellos Album "Armed Forces" ist nur auf Schallplatte erhältlich, besteht aus drei LPs, drei Zehn-Zoll-Schallplatten, drei Vinyl-Singles und sieben Booklet-Heften, kostet etwa 250 Euro und gilt bereits als ausverkauft. U2 wiederum walzten ihr im Jahr 2000 erschienenes Album "All That You Can't Leave Behind" zur Feier der Saison auf elf Schallplatten plus Begleitbuch aus. Mit einem simplen Trick: Da sich mit Bonus-Songs, Arbeitsversionen und Livematerial nur sechs Platten füllen ließen, presste man die elf übrigen Remixe einfach so großzügig und verschwenderisch ins Vinyl, dass dabei fünf weitere Scheiben herauskamen. Womit der Verkaufswert von fast 200 Euro vom Kilopreis her gerechtfertigt wäre.

U2 PERFORM ON THE ROOF OF THE CLARENCE HOTEL IN DUBLIN

"U2" bei einem Promoauftritt für ihr Album "All That You Can't Leave Behind" im Jahr 2000.

(Foto: REUTERS)

Das wären einige, wenige Beispiele. Die tatsächliche Menge an neuen CD- und Vinyl-Boxsets ist 2020 schwer überschaubar. Der britische Journalist Paul Sinclair hält auf seinem Blog superdeluxeedition.com halbwegs mit dem Angebot Schritt. Die Experten debattieren anschließend im berüchtigten Online-Forum des US-Toningenieurs Steve Hoffman über Klangqualität und Remastering-Strategien. Dass die Neuauflagen leider fast durchgängig nur den Rock- und Folkbedarf des weißen Babyboomer- und Generation-X-Publikums bedienen, mit wenigen (musikalischen) Ausnahmen wie der atemberaubenden Box zu "Sign O' The Times" von Prince, dürfte mit der Sammel- und Zahlungsbereitschaft zu tun haben, die den Kohorten zugerechnet wird. Zitierfähige Verkaufszahlen der Boxen gibt es nicht, aber wenn eine Edition so schnell ausverkauft ist wie die von Costello, liegt das wohl auch an der niedrig kalkulierten Auflage.

Wobei: Ganz fremd ist der Anreiz auch der jüngeren Kundschaft natürlich nicht. Genres wie Hip-Hop und der aus Korea stammende K-Pop haben ihre eigene Kultur für Boxen und Bonusausgaben entwickelt, die etwas anders funktioniert. Stars wie Mero oder Loredana, BTS oder Itzy bieten CD-Souvenir-Editionen, denen klassische Fanartikel wie Fotokarten, Notizhefte, T-Shirts oder Sticker beiliegen, und die mit 25 bis 50 Euro gerade noch im Taschengeld-Wendekreis liegen. Für sie gilt allerdings: Die Accessoires werden viel mehr gezeigt und benutzt, statt staubfrei im Regal zu liegen. Sie fungieren als kleine Statussymbole und Identifikationsstifter, wie ein Rest von taktiler User Experience. Womit sie auch das infantile Potenzial entlarven, das mindestens ebenso sehr auch in den großen Rock- und Pop-Boxen steckt.

Zu einem der bekanntesten deutschen Musik-Boxsets wurde vor vier Jahren, eher unfreiwillig, eine Edition des Schlagersängers Matthias Reim. Das dreiminütige Werbevideo, in dem Reim mit weithin schlecht gespielter Überraschung den reichlich schäbigen Inhalt seiner eigenen Box auspackt, wurde zum Spottobjekt und verbreitete sich viral im Internet: Erst die CD, oh wow, dann das Talisman-Kettchen, geil, dann auch noch der Künstler als 3-D-Actionfigur - gibt's denn so was?!

SIMMONS

Andere Sammler-Box: "Kiss"-Bassist Gene Simmons vor dem "Kiss Kasket" - einem Sarg. Mit Band-Logo. Doch, wirklich.

(Foto: Richard Drew/ASSOCIATED PRESS)

Dabei ist es ja eigentlich in der Tat genau diese Erfahrung - das Anfassen und Auspacken, das Kinder-an-Weihnachten-Gefühl, wenn plötzlich das Murmelsäckchen in der "Dark Side Of The Moon"-Box von Pink Floyd auftaucht oder man die Totenkopfringe in der "Appetite For Destruction"-Deluxe-Edition von Guns N' Roses findet -, die den größten Teil des Produktreizes ausmacht. Nicht allein das zu Tode zitierte Haptische, sondern das Erlebnis. Die um die Musik herumgebaute Welt. Ein letztes Mal großer Pop-Zirkus in den Händen.

Gene Simmons, als geschäftstüchtig bekannter Bassist der Band Kiss, brachte 2017 ein Zehn-CD-Set auf den Markt, dessen Clou war, dass er versprach, jedem Kunden sein Exemplar persönlich zu überreichen. Je nach Dauer der Audienz kostete das zwischen 2000 und 50 000 Dollar, und natürlich fand er die Kunden dafür. Ob die das musikalisch völlig irrelevante Werk je gehört haben, weiß keiner. Wahrscheinlich hatten sie aber trotzdem den Spaß ihres Lebens damit.

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