Süddeutsche Zeitung

Kinderbuch:Eier aus dem Wasserkocher

Im Kinderroman "Ellie und Oleg" müssen zwei Geschwister während eines Pandemie-Lockdowns ohne ihre Eltern auskommen. Ob das gutgeht?

Von Kathleen Hildebrand

Wenn Kinder heute ein echtes Abenteuer erleben sollen, dann muss zuallererst das Handy verschwinden. Wäre ja sonst zu einfach. Die Eltern kommen abends nicht nach Hause? Schickt man schnell eine Textnachricht, "wo bleibt ihr denn???", und kurz darauf ist alles geklärt. Aber Ellie findet ihr Handy nicht. Auch nicht, als ihr kleiner Bruder Oleg mitsucht. Es ist weg. Und die Eltern kommen nicht zurück aus der Stadt. Ellie und Oleg sitzen allein im neuen Haus in der Brandenburger Pampa, auch Nachbarin Edeltraut ist nicht da, ihre Katze Sissi maunzt bald heran, weil sie Hunger hat. So wie Ellie und Oleg. Aber die können sich immerhin Eier im Wasserkocher machen - nach einem fiesen Unfall hat Ellie Herdverbot und an das hält sie sich auch, zumindest vorerst.

Kinder, die plötzlich ohne Erwachsene auskommen müssen, das ist eine klassische Ausgangssituation für Abenteuer in der Jugendliteratur. Katja Ludwig dekliniert sie sehr konsequent und höchst realistisch durch. Sie versetzt sie nicht nur in eine sehr zeitgemäße Pandemielage - der Lockdown ist etwas härter, als man ihn hierzulande erlebt hat, die Polizei riegelt Städte und Dörfer ab, die Kinder kommen nicht mal über die Brücke in den nächsten Ort - sondern auch in ein ganz bestimmtes Milieu, das sie aus Kindersicht erkenntlich macht. Ellie und Oleg gehören zu einer Patchwork-Familie aus Berlin. Ellie hat dunkle Haut, Oleg ist so blass, dass seine Ohren rot leuchten, wenn hinter ihm die Sonne scheint. Ihre Eltern haben noch ein gemeinsames Kind namens "Lilac" bekommen, das beiden Älteren ordentlich auf die Nerven geht. Die Familie will aus der zu kleinen Wohnung in der Stadt raus aufs Land ziehen, in eine winzige Häuseransammlung namens "Ausbau 1-3". An der Busendhaltestelle liegt eine LPG-Ruine.

Oleg macht sonst schon auf cool, aber jetzt tuschelt er wieder mit seinem Kuschelteddy

In dieser Einöde müssen die zwei Geschwister aus der Stadt, sie sind zwölf und acht Jahre alt, nun also allein klarkommen. Wie da die Angst immer wieder in Tränen mündet (Ellie versucht sie zu unterdrücken) und dann doch wieder in kurzer Abenteuereuphorie verschwindet, fängt Katja Ludwig herrlich genau ein. Oleg macht sonst schon auf cool, aber jetzt tuschelt er wieder mit seinem Kuschelteddy, um einschlafen zu können. Und Ellie versteht zwar schon einiges von der Welt, aber die kryptischen Ansagen im Radio über den Lockdown und Probleme im nahegelegenen Umspannwerk lassen ihr den Kopf schwirren.

Als die Lebensmittelvorräte zur Neige gehen (was ist eigentlich "Soßenbinder"?), verlassen die zwei auf der Suche nach anderen Menschen ihr Haus, fliehen vor dem einzigen anwesenden Nachbarn und verlaufen sich - Eltern werden mit einiger Sorge diese realistische Schilderung darüber lesen, wie auch heute Kinder plötzlich verlorengehen können, in einer kalten Nacht draußen schlafen müssen, mit nicht mehr zugedeckt als einem Haufen scharfkantigem Schilf. Für Kinder aber ist dieses Buch auch ein großer Mutmacher: Ellie kann zwar kein Brot backen, wohl aber Muffins.

Wenn der eigene Kühlschrank leer ist, hat vielleicht die abwesende Nachbarin eingewecktes Obst im Kämmerchen. Und im Notfall steigt vages Wissen über den Lauf der Sonne, über rausfliegende Sicherungen und Gartenbau oft hilfreich an die Oberfläche des Bewusstseins. Ganz verloren ist man jedenfalls nicht als Kind, das verspricht Katja Ludwig mit diesem schönen, aufregenden Buch. Auch nicht ohne Handy.

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