Süddeutsche Zeitung

Elena Ferrantes neuer Roman:Höhere Moral

"Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" erzählt von einer jungen Neapolitanerin, die gegen die Scheinmoral ihrer Eltern aufbegehrt. Kommt das Werk an Ferrantes Neapel-Tetralogie "Meine geniale Freundin" heran?

Von Martin Ebel

Die große Frage in Bezug auf Elena Ferrantes neuen Roman "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" lautet natürlich, ob er dem Vergleich mit der Neapel-Tetralogie "Meine geniale Freundin" standhält, dem vierbändigen Weltbestseller mit zwölf Millionen verkauften Exemplaren, Übersetzungen in 50 Sprachen und einer HBO-Serienverfilmung. Und die Antwort lautet: Er kann.

Der neue Roman weist unverkennbar ferrantesche Züge und Qualitäten auf und ist doch ganz anders. Nicht ein halbes Jahrhundert umspannt er, nur zwei Jahre in den 1990ern; diesmal auch kein Großaufgebot diverser Familien eines Armenviertels in Neapel, keine spannungsvolle Frauenfreundschaft im Zentrum, sondern eine einzige Mädchenfigur, die am Anfang fast 13 und am Ende 16 Jahre alt ist. Eine Pubertätsgeschichte also, ein Erziehungs-, Erkenntnis- und Desillusionsroman, nur erzähltechnisch, aber nicht psychologisch etwa schlichter gestrickt als das Vorgängerquartett.

Für den Vater ist Armut ein moralisches Laster

Giovanna heißt die Heldin, wohlerzogene Tochter zweier Gymnasiallehrer. Andrea, der bewunderte Vater, brilliert außerdem als politischer Essayist, die Mutter Nella korrigiert nebenher Liebesromane. Die Kleinfamilie wohnt im Rione Alto, einem Viertel der Arrivierten mit weitem Blick über die herrliche Bucht. Die vertikale Topografie Neapels bildet die soziale Schichtung ab: Der Rione Alto und der benachbarte Stadtteil Vomero sind oben; unten, etwa in der "Zona industriale", wohnt das Elend. Dort kommt Giovannas Vater her, und dort lebt immer noch seine Schwester Vittoria, die nach fünf Jahren von der Schule abging und als Putzfrau arbeitet. Der Neubürger verachtete die Zurückgebliebene, sie wiederum hasst die Arroganz des Aufsteigers.

Der Vater gefällt sich in salonmarxistischen Tiraden, aber mit wirklicher Armut, gar in der eigenen Familie, will er nichts zu tun haben. Armut ist bei ihm ein moralisches Laster, denn wer fleißig lernt und sich kultiviert benimmt, kann es schaffen. Kein Wunder, dass die pubertierende Tochter Giovanna sich als Rebellions- und Identifikationsobjekt ausgerechnet die verhasste Schwester aussucht.

Die Tante macht Giovanna klar, was harter Sex bedeutet

Bei Vittoria lernt sie ein völlig anderes Leben kennen: drastisch und dramatisch, wild und vital, voll latenter und manifester Gewalt. Vittoria flucht und schimpft - im Dialekt, dem Sozialmarker Italiens -, sie macht ihrer braven Nichte in aller Deutlichkeit klar, was harter Sex bedeutet (und dass ohne den "das Leben nichts ist"), aber dieser Sex mit dem verheirateten Enzo erscheint auch als Glutkern einer tragisch-rührenden Liebesgeschichte. Kurz: Giovanna ist fasziniert, sie verfällt dieser Tante, weil sie sich in ihr wiedererkennt. Im Gegenzug zerbricht die Fassade des wohlanständigen Elternhauses: Der Vater erscheint ihr nun als Schwätzer und Blender.

Überall Lüge und Heuchelei: Da macht Giovanna gern mit und wechselt als eine Art Doppelagentin geschmeidig zwischen beiden Milieus, Rione Alto und Zona Industriale (das beschreibt die Autorin so detailliert, dass man ihren Schritten auf einem Stadtplan folgen kann: Erneut ist Neapel die heimliche Heldin des Buches).

Der Quartiersmafioso als todbringender Dämon

Die pubertierende Giovanna findet sich unansehnlich, andererseits entgeht ihr nicht, welche Wirkung sie auf Männer ausübt, und probiert sie bei diversen "Kandidaten" des Armenviertels aus. Sie lernt den Thrill der Gefahr kennen und ihre Ekelgrenze. Das heftig riechende Gemächt eines Halbstarken - das ist eben etwas anderes als das vertraut-verschwitzte nächtliche Gefummel mit der Kindheitsfreundin. Gehören "erwachsener" Sex und Gewalt etwa zusammen? "Männer wollen nur das Eine", hatte die Tante gewarnt, "Alle Männer sind Schweine" die Freundin. Das hält Giovanna nicht davon ab, ihr sexuelles Potenzial auszureizen, im Gegenteil. Bei einer Ausfahrt mit einem Quartiersmafioso erscheint dieser ihr plötzlich "wie ein strahlend heller Dämon, der mit beiden Händen meinen Kopf packen und mich zuerst gewaltsam küssen und mich dann so lange gegen das Autofenster schmettern würde, bis er mich getötet hätte".

Wie die Autorin solche Abgründe in der scheinbar naiven Erinnerungsprosa der 15-Jährigen aufscheinen lässt (geschrieben, so wird an einigen wenigen Stellen suggeriert, von einer viel älteren Giovanna), darin ist Elena Ferrante auch hier wieder ganz groß. Sie inszeniert Vitalität und Bedrohlichkeit, Verführung und Aggression wie sich kreuzende Wellen, auf denen Giovanna experimentier- und risikofreudig, bewusst-unbewusst dahinsurft.

Giovanna lässt die Scheinmoral des Elternhauses hinter sich

"Bis heute beschäftigt mich die Frage, wie unser Gehirn Strategien entwickelt und durchsetzt, ohne sich zu offenbaren." Giovanna, und das gehört zum Prozess der Reifung, gelingt es zunehmend, die Strategien, die sie einsetzt, zu analysieren. Indem sie beobachtet, wie sie sich verhält, lernt sie sich kennen. So bin ich also, beschließt sie: auch mal böse, raffiniert, intrigant, "mit einem heftigen Verlangen nach Verworfenheit". Aber auch mit der Fähigkeit, auf die Belange anderer Rücksicht zu nehmen: Giovanna lässt die Scheinmoral des Elternhauses hinter sich und entwickelt eine Moral höherer Ordnung. Indem sie nicht in die Falle einer romantischen, aber zerstörerischen Liebe tappt, lässt sie auch Vittoria, die das vorgelebt hatte, hinter sich. Die Tante bleibt eine Identifikationsfigur des Übergangs.

Giovanna wird erwachsen, und wie sie es wird, bestimmt sie selbst. Am Ende sehen wir die Heldin mit einer Freundin, die Schriftstellerin werden will. Nach Venedig abreisen. Am Horizont zeichnet sich ein neues Frauengespann ab. Wohin Elena Ferrante es lenken wird, werden wir hoffentlich in ihrem nächsten Roman erfahren. Denn das Ende dieses Buches ist so offen wie das Leben, das vor Giovanna liegt.

Elena Ferrante: Das lügenhafte Leben der Erwachsenen. Roman. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 414 Seiten, 24 Euro.

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SZ vom 01.09.2020
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