Süddeutsche Zeitung

Elektro-Tüftler Alva Noto:Diese digitalen Dellen

Klanghavarien sind hier Glücksfälle, Fehler werden verstärkt, nicht behoben: Das famose neue Album des deutschen Avantgarde-Techno-Tüftlers und Hollywood-Filmmusik-Produzenten Carsten Nicolai alias Alva Noto.

Von Max Dax

Was passiert, wenn Klangwellen durch Medienwechsel gehen und unberechenbare digitale Dellen bekommen? Als der aus Chemnitz stammende 54-jährige Musiker Alva Noto Mitte der Nullerjahre für eine Weile in einem Hotelzimmer in Yamaguchi, einer Vorstadt von Tokio lebte, wurde er Tag und Nacht von Unterhaltungsmusik berieselt, die knapp oberhalb der Wahrnehmungsgrenze in sein Unterbewusstsein einsickerte. Diese Musik nahm Noto mit einem damals neu gekauften japanischen High-Tech-Aufnahmegerät auf. Beim Versuch jedoch, die hochauflösenden digitalen Klangdaten in seinen Apple-Laptop zu importieren, erwachte der Geist in der Maschine und baute unvorhersehbare Fehler in das Signal: Die Geschwindigkeit der Musik wurde geheimnisvoll auf die Hälfte reduziert, Störgeräusche interpolierten sich bei der Übertragung der Aufnahme algorithmisch in die neue Sounddatei.

Für Alva Noto sind solche Klanghavarien Glücksfälle. Statt den Fehler zu beheben, verstärkte er ihn durch Wiederholung, nahm die Musik erneut auf und ließ sie wieder und wieder, diesmal bewusst durch das fehlerhafte Interface laufen, bis am Ende ein dynamisches weißes Rauschen übrig blieb, das bereits zu diesem Zeitpunkt eine lange Reise der Klangmanipulation hinter sich hatte. Noto (übrigens ein Pseudonym des Künstlers Carsten Nicolai) verwendete also eine Methode, wie sie unter bildenden Künstlern üblich ist, wenn sie etwa ein Bild ein ums andere Mal fotokopieren, bis zum Schluss abstrakte schwarz-weiße Artefakte übrig bleiben. Artefakte freilich, deren genaue Positionen im Raum vom ursprünglichen Bild vorherbestimmt wurden - wie in einem Rorschachtest.

Die in Yamaguchi generierten, majestätisch kratzenden Störgeräusche drapiert Alva Noto seit 2007 über epische, und doch minimalistische, sich in aller Ruhe ausbreitende Klangflächen. Seit 13 Jahren arbeitet Alva Noto an einem musikalischen Reisetagebuch, dessen Titel "Xerrox" nicht zufällig an die Mutter aller Fotokopierer erinnert, und das er ursprünglich nach fünf Jahren abgeschlossen haben wollte.

Jetzt ist mit "Vol. 4" der vierte Teil dieser auf insgesamt fünf Folgen angelegten Saga erschienen. Legt man die Plattencover nebeneinander, ergeben sie eines Tages den kompletten Schriftzug Xerrox. Schon lange bevor Alva Noto durch seine weltweit beachtete Zusammenarbeit mit dem japanischen Komponisten Ryuichi Sakamoto (ihr gemeinsamer Soundtrack für den Leonardo-DiCaprio-Film "The Revenant" aus dem Jahr 2015 wurde nur deshalb nicht für einen Oscar nominiert, weil eine alte Oscar-Regel besagt, dass Filmmusiken nur von einem Komponisten stammen dürfen) einem Millionenpublikum ein Begriff wurde, war er ein Vielreisender.

Klanghavarien sind hier Glücksfälle, Fehler werden durch Wiederholung verstärkt

Er war ein frequent traveler, der tausende von Lebensstunden in Flughäfen und Flugzeugen, in Shuttles und Eisenbahnen, in Hotelzimmern verbracht hat. Wer ein Leben im Transit lebt, begreift die Bewegung als begleitende Schwingung des Alltags und Stillstand als bedrohlich - ähnlich einem Seemann, der nach Monaten oder Jahren auf See den festen Boden unter den Füßen nur selten als beruhigend empfindet.

Während die ersten beiden Teile von "Xerrox" Reisen durch die alte und die neue Welt musikalisch abstrahieren, begab sich Alva Noto für den dritten, 2015 erschienenen Teil auf eine Reise der dritten Art. Zum Rhythmus der Bilder von Andrej Tarkowskijs Science-Fiction-Liebesfilm "Solaris" komponierte Noto in einem Akt der Hommage, aber auch der tiefen Auseinandersetzung eine - inoffizielle - neue Filmmusik.

Im jetzt vorliegenden, vierten Teil schließlich wird seine Reise introspektiv. "Das neue Album", so Alva Noto, "empfindet die Odyssee Homers nach. Er irrte 13 Jahre umher. Im Corona-Lockdown waren wir gerade einmal drei Monate zum Stillstand gezwungen. In dieser Zeit wurde die Bewegung inwändig - ich saß in meiner Wohnung und begann in mich selbst zu reisen und fühlte mich wie Odysseus, der durch das Weltall irrt. Da wurde mir erst klar, was ich im Winter vor dem Lockdown für eine Musik komponiert hatte."

Tatsächlich hatte er "Xerrox Vol. 4" fertig, bevor die Corona-Zahlen in Europa exponentiell in die Höhe schossen. Seitdem haben Millionen von Menschen Isolation und Stillstand erlebt, ihr Leben neu ausmessen müssen. In genau diesem Vakuum sozialer Distanziertheit und neuer Körpersprachen entfalten die 14 neuen Instrumentaltracks eine große lyrische Energie, sie entfalten die Kraft einer Vorahnung. Alva Noto: "Für mich ist Technologie eine lyrische Angelegenheit. Die Computersprache Unicode ist für mich konkrete Poesie. Und dass Dichtung Abstraktion bedeutet und als sprachliches Format so offen ist wie kein Zweites, beschäftigt mich schon seit Jahren. Auch glaube ich an Wittgenstein und seine Annahme, dass alles, was denkbar ist auch möglich ist. Freilich in einem positiven Sinne: Wenn ich mir eine Odyssee durch das Weltall wie eine Introspektive vorstelle, dann ist sie auch genau das. Nur dass ich mich eben nicht der Form des Gedichts bediene, sondern der Form der elektronischen Musik."

Gerade im Vergleich zu seinem Frühwerk und seinen Kollaborationen mit Sakamoto in den Nullerjahren ist "Xerrox Vol. 4" eine Art fließender Neustart der Klangreisen Notos. Vorbei scheinen die Zeiten, in denen der Elektronikpionier mit Störgeräuschen im subsonischen Bereich gegen Hochtonfrequenzen an musizierte, oder stellenweise ans Esoterische grenzend das Piano Sakamotos mit geschmackvollen elektronischen Klängen konterkarierte. Nein, auf seinem neuen Album gibt eine Demut den Ton an, eine Sehnsucht nach kosmischer Verbundenheit, übersetzt in eine retrofuturistische Musik, die im sparsamen Gebrauch wohldosierter Effekte einen tiefen Eindruck beim Hörer zu hinterlassen vermag. Noto: "Es gibt im Kosmos so gut wie keine Materie - und nur der allerkleinste Teil dieser Materie ist Leben. Deshalb suchen wir ja auch unentwegt nach planetaren Systemen. Es wäre eine traurige Wahrheit, wenn wir wüssten, wir sind allein. Wir wollen doch eigentlich ein Teil von Allem sein." Seltsam eigentlich, dass der Urknall dieser ambienten Introspektive ausgerechnet als einsame Klangberieselung in einem beengten japanischen Hotelzimmer begonnen hat.

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Quelle:
SZ vom 06.07.2020
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