"Elefant" von Martin Suter:Durch dick und dünn

Martin Suter kommt mit 'Elefant' nach Berlin zum rbb

Interventionist des Wunderbaren: Martin Suter.

(Foto: obs)

Zwischen Wunderbarem und Alltäglichem: In seinem neuen Roman bürdet Martin Suter einem kleinen, rosafarbenen Elefanten schwere philosophische Lasten auf.

Von Thomas Steinfeld

Einer der vielen scheinbar rätselhaften Sätze in Franz Kafkas Tagebüchern lautet: "Wunder gab ich leichter zu als wirklichen Fortschritt." Er schreibt ihn, als er über die Möglichkeiten nachdenkt, die Welt zu verändern. Von Traurigkeit und Furcht sei dieses Nachdenken begleitet, von Traurigkeit, "weil die Gegenwart so traurig war", und von Furcht, weil er nicht die Kraft zu besitzen glaubte, die "große männliche Zukunft" zu beurteilen. Und so verharrt er, wo er ist, und manchmal träumt er.

Der Elefant, von dem das jüngste Buch des Schweizer Schriftstellers Martin Suter handelt, ist ein Wunder in Franz Kafkas Sinn: höchstens vierzig Zentimeter lang und dreißig hoch, mit einer rosafarbenen Haut, die gut zu einem Marzipanschwein gepasst hätte, und darüber hinaus leuchtet es im Dunkeln. Das Erstaunliche nimmt damit kein Ende, denn selbstverständlich ist das Wunder auch ein Lehrstück in höherer Metaphysik.

Nicht nur, dass das kleine Tier anschmiegsam ist, gelegentlich Durchfall hat und sich mit dem Rüssel Wasser auf den Rücken spritzen kann: Es erzieht auch die Menschen in seiner Umgebung. Eingedenk des Wunders, dessen sie teilhaftig werden, verwandeln sie sich allmählich in bessere, und das heißt: verantwortungsvolle, liebende Menschen. Das gilt vor allem für den obdachlosen Trinker Schoch, in dessen Höhle der kleine Elefant eines Abends steht, aber auch für Valerie, die Veterinärin, die sich um die Tiere der "Randständigen" kümmert.

Ein gutes Dutzend Kriminalromane hat der frühere Werbetexter und Kolumnist Martin Suter veröffentlicht, seit er mit "Small World" (1997) zum ersten Mal die Geschichte eines Verbrechens nicht nur mit der Schilderung einer Krankheit, sondern auch mit der Beschreibung eines gesellschaftlichen Milieus verbunden hatte. Das Buch "Elefant" folgt dieser Tradition, auch wenn es nicht um die Enthüllung eines Verbrechens, sondern um die Erhaltung eines Wunders geht: Da gibt es Schoch, den Mann mit einer exemplarisch gebrochenen Identität.

Denn selbstverständlich ist da ein Grund, warum er die elementare Menschlichkeit im Alkohol und in der Gemeinschaft der Ausgestoßenen sucht. Da gibt es die feinen Leute mit einer Villa hoch oben auf dem Zürichberg, die alles besitzen, nur aber jene Menschlichkeit nicht. Da gibt es den skrupellosen Gentechniker, der - weniger aus Geldgier denn aus Rachsucht - unbedingt kleine rosa Elefanten herstellen will. Auch der gewalttätige Abgeordnete eines obskuren chinesischen Konzerns treibt sich bald am Ufer der Limmat herum, und Tote bleiben nicht aus.

"Elefant" reiht sich in die für Suters typische Erzählweise

Eine eigene literarische Technik hat Martin Suter für seine Geschichten entwickelt, und darin bildet "Elefant" keine Ausnahme. Drei Teile hat das Buch und über hundert Kapitel, von denen selten eines länger als fünf Seiten ist und die meisten deutlich kürzer sind. Die Reihen von kurzen Sätzen werden gelegentlich von einem Satz mit Komma unterbrochen, aber das Verhältnis liegt, doppelte Hauptsätze als getrennte gezählt, bei mindestens drei zu eins: "Valerie grinste. Der Mann wollte sie auf den Arm nehmen. Oder er war nicht ganz richtig im Kopf. Das kam oft vor in der Suchtszene.

Doch dann bewegte sich das Spielzeug. Der Rüssel schlängelte sich, der kleine Körper zog sich zusammen, und etwas floss ihm aus dem Mund. Das Wesen erbrach sich." So entsteht ein sachlicher, nahezu nachrichtlicher Ton, der sich hervorragend dazu eignet, das eigentlich nicht Kompatible einander kompatibel zu machen. Das Wunderbare fügt sich dann zum Alltäglichen, das Kriminalistische zur frommen Legende, die Liebesgeschichte zur technischen Beschreibung der Implantation eines gentechnisch veränderten Embryos in der Gebärmutter eines Elefanten.

Sogar über die Passagen, in denen es mit der Plausibilität ein wenig hakt - warum sollten sich plötzlich lauter Menschen, die sich nicht kennen und die nichts miteinander zu tun haben, ausgerechnet mit Miniaturelefanten beschäftigen? -, führt dieser Ton souverän hinweg.

Hoffnung auf profane Erlösung der Ausgestoßenen

Die lakonische Sprache verbirgt nur schlecht - und soll vermutlich auch gar nicht verbergen, im Gegenteil -, dass dieses Buch mehr und anderes sein will als eine spannende Geschichte. Zu bemerken ist das schon in der Beschreibung des Milieus, in dem obdachlose Trinker leben. Eine sehr gründliche Recherche scheint darin eingeflossen zu sein, nicht nur zu Orten und Verhaltensweisen, sondern auch zur Anziehungskraft des Sixpacks. Die Recherche dient sicherlich auch der Wahrhaftigkeit, doch zugleich geht es um Höheres: um das Heraustreten aus einer immer wieder vergeudeten, weil einem vermeintlichen persönlichen Fortschreiten gewidmeten Zeit.

Den Pennern wohnt in diesem Buch eine Hoffnung auf profane Erlösung inne, und das gilt sogar für Bolle, den Einäugigen, der sich seines Verstandes eigentlich schon entledigt hatte. Bald gelten nicht nur die Penner, sondern auch die Tiere im Allgemeinen und die Elefanten im Besonderen als Garanten des Wahren im Falschen. Und irgendwann in der zweiten Hälfte des Buches, spätestens an der Stelle, an der geriebener Parmesan über Ravioli gestreut wird, bildet die Jagd nach dem rosa Elefanten nur noch eine Seite des Romangeschehens, während die andere sich den Fragen nach einem lebenswerten Leben, ja nach der Schöpfung überhaupt zuwendet.

In diesem Sinne muss schließlich die Sache mit dem Wunder verstanden werden: als Versuch einer Intervention im Absurden, weil der Mut, der Verstand und die Kraft nicht auszureichen scheinen. Jedes kleine Fortschreiten, hatte Franz Kafka geschrieben, komme ihm "wie eine Fälschung" vor, "das Nächste unerreichbar". Dann lieber aufs Ganze gehen, ins Unwahrscheinliche und Fantastische - und einen kleinen rosa Elefanten in die Welt schicken. Martin Suters Buch ist leicht. Es ist über längere Strecken unterhaltsam. Aber der Elefant bekommt, so klein und rosa, wie er ist, philosophische Gewichte aufgebürdet, die nicht nur für ihn viel zu schwer sind.

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