Noch heute lässt sich am Außenbau der Elbphilharmonie nacherleben, was die Zeichnung damals den Betrachtern vermittelt hat. Wie Melodielinien schwingen sich die Kanten des Dachs kurvig von Spitze zu Spitze. Die Horizontalen der Stockwerke wirken dabei wie Notenlinien. Von welcher Seite man den Bau auch betrachtet und wie viele der neun hochragenden Spitzen jeweils zu sehen sind - immer wirken die geschwungenen Konturen des Daches wie eine musikalische Komposition, die in den Himmel über Hamburg geschrieben ist.
Bis diese mit leichter Hand aufs Papier geworfenen Melodiebögen bautechnisch umgesetzt werden konnten, waren freilich noch viele konstruktive Überlegungen nötig. Und auch beim Ausbau des Speichers musste mehrfach gründlich umgedacht werden. Rechnet man aber all die fabelhaften Erlebnismöglichkeiten zusammen, die der Stadt durch dieses Bauprojekt eröffnet worden sind, wird man die Gesamtkosten sogar für relativ gering erachten.
Die Basler Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron verblüffen bei all ihren Architekturen mit eigens entwickelten Fassaden-Konstruktionen und ungewöhnlichen Materialien. Für das in Hamburg über den Hafen hinausgehobene Musikzentrum haben sie eine Glashaut entwickelt, die mit ihren plastischen und grafischen Varianten auch größte Flächen in munter bewegte Reflex-Landschaften verwandelt.
Wie Tränensäcke aus der Fassade hängende Glasmulden
Viele der schweren Glasscheiben sind nach außen kräftig gebaucht; fast alle aber sind so mit feinen grafischen Mustern bedruckt, dass in der Mitte ein großes Oval frei bleibt, das bei Tag nach außen wie eine dunkle Stelle wirkt und darum von unten wie ein hinter der Glaswand verborgenes Auge wahrgenommen wird.
Eine geradezu aberwitzige Erfindung aber sind die wie Tränensäcke aus der Fassade hängenden Glasmulden, hinter denen sich Balkone befinden; diese Freiräume können von den dahinterliegenden Wohnungen oder Hotelzimmern, aber vereinzelt auch von den Konzertfoyers aus begangen werden. Wenn ein Mensch einen solchen Balkon betritt und sich über die wie ein Lid herunterhängende Brüstung beugt, kann er für die Zuschauer unten auf der Straße den Schalk im Auge oder den Lichtpunkt auf der Pupille spielen.
Schon wenn man auf dem Kaiserkai frontal auf die Ostwand der Elbphilharmonie zuschreitet, ist man überwältigt von der Ungeheuerlichkeit dieses querliegenden Massivs, dieses nahezu fensterlosen sichtversperrenden Backsteinriegels und des darüber bis in 80 Meter Höhe hinaufstoßenden, den Himmel widerspiegelnden Glaskörpers. Hinter der Backsteinwand ist das Parkhaus verborgen; hinter der gläsernen Wand darüber liegen die Zimmer und Suiten des Hotels. Am anderen Ende des Gebäudes aber, an der nur noch 21 Meter breiten, aber 115 Meter hoch über den Pegel der Elbe emporsteigenden Westfront, sind die 45 Wohneinheiten hinter den Glaswänden untergebracht.
In der Mitte zwischen diesen beiden konventionell etagenweise geschichteten Bautrakten erhebt sich die zeltartig kühne, weit ausladende Konstruktion, deretwegen Hochtief für viele Monate aus dem Projekt ausgestiegen ist. In diesem statischen Meisterwerk unter dem geschwungenen Dach ist der Große Konzertsaal so aufgehängt, dass er elegant über dem Speicher und über der öffentlich zugänglichen Plaza schwebt. Die ihn umkreisenden Foyers und Treppen aber stoßen immer wieder auf die Glasaußenwände, die eine weite Sicht über die Stadt, die Elbe, den Hafen oder die meteorologischen Ereignisse am Himmel bieten.
Der Konzertsaal fungiert als pumpendes Herz im belebten Baukörper
Hat man sich den im Glashaus schwebenden, ungefähr tropfenförmigen Konzertsaal als Figur eingeprägt, kommt er einem wie das schlagende Herz des umgebenden Baukörpers vor, wie der Muskel, der das musische Hochgefühl durch die Flure und Räume pumpt.
Schon das Eindringen in das Bauwerk wird zum räumlichen Erlebnis. Wer einen der Stellplätze im sechsgeschossigen Parkhaus erreichen will, wird von einer kreisförmigen Rampenspindel emporgetragen, die in ihrer Eleganz an die berühmte Spindel im ehemaligen Fiat-Lingotto-Werk in Turin erinnert. Und wer sich zu Fuß auf das Abenteuer der Speicher-Besteigung einlässt, wird von einer 80 Meter langen, nach oben langsam flacher werdenden Rolltreppe in einem engen Tunnel quer durch das ganze Gebäude getragen und am anderen Ende vor eine riesige Glasscheibe geworfen, die einen verblüffenden Aus- und Tiefblick auf den Hafen und das Treiben unten auf der Elbe freigibt.