Elbphilharmonie:Auf Tuchfühlung im Vulkankrater

Begeistert feiern die Hamburger ihre Elbphilharmonie. Nur der Klang überzeugte nicht recht. Lag es an Yasuhisa Toyotas Akustik - oder ganz einfach am Orchester?

Von Reinhard J. Brembeck, Hamburg

Der Name klingt so weltläufig wie ländlich: Kaiserhöft. Was ein Kaiser ist, glaubt man zu wissen. Ein Höft dagegen, eine von Gewässern geschaffene Landzunge, dürfte nur Küstenbewohnern vertraut sein. Der Hamburger Kaiserhöft in der Elbe hat eine ruhmreiche Handelsgeschichte. Bis zur Hafenerweiterung im 19. Jahrhundert stand hier eine Werft, dann folgten Hafenbauten, zuletzt ein Kornspeicher. Und jetzt leuchtet von der Kaiserhöftspitze ein ganzes Bataillon von Scheinwerfern zu den wenigen Menschen hinauf, die oben auf dem Dach dieses ehemaligen Kornspeichers dem regen- und windgepeitschten Hamburger Winterwetter trotzen.

Dieses an den Seiten offene Speicherdach heißt mittlerweile Außenplaza und ist die Basis für Deutschlands spektakulärsten und skandalträchtigsten Kulturbau, für die nach 15 Jahren jetzt endlich fertiggestellte Elbphilharmonie. Hier hinauf in die luftige Plaza-Kälte zu gelangen, ist ein Abenteuer. Noch bevor die 2100 Gäste am Eröffnungsabend die sturmflutsicheren Hafenwälle überschreiten können, um, so ein unmissverständliches Warnschild, ins überflutungsgefährdete "tief liegende Gebiet" der Elbphilharmonie vorzustoßen, säumen Mannschaftswagen der Polizei die Zugangsstraßen. Ein Konzertbesuch im Hochsicherheitstrakt: Wird das nach den Attentaten von Paris und Berlin nun die Regel sein für Konzertgänger, zumindest bei prominenteren Veranstaltungen?

Nachdem der Besucher Polizei, Betonpoller, Kartenkontrolle und Durchleuchtung hinter sich gebracht hat, darf er eine sanft gebogene, unendlich lange und im Larghissimo dahinschleichende Rolltreppe betreten. Die befördert ihn hinauf zur kühlen Plaza, während die Spannung stetig steigt. Keiner weiß, was ihn erwartet, nur ein paar Besserwisser lassen durchblicken, wie toll das hier alles sei, vor allem die Akustik des großen Saals. Gerade um Letztere haben die Elbphilharmoniker ein großes Geheimnis gemacht. Kein Außenstehender durfte sie vorab erleben, nur die Musiker, die für die Eröffnung probten, haben ihr überschwängliches Lob durch die Medien gefeuert.

So schreiten die Besucher also hinauf in den vom Architektenduo Herzog und de Meuron entworfenen Speicheraufbau, in dem der große Konzertsaal untergebracht ist. Wer nicht schon auf der langen Rolltreppenfahrt ungeduldig wurde, der wird es jetzt. Den Besucher beschleicht das Gefühl, dass er kein Konzerthaus durchsteigt, sondern einen jener treppenverschachtelten Carceri, wie sie Piranesi erträumte. Die Orientierung geht in der Enge oft verloren, die unzähligen Ebenen ziehen an einem vorbei, und weh dem, der auf Etage 15, also fast ganz oben, einfach irgendeinen Eingang nimmt und nicht genau den für ihn vorgesehenen - für den beginnt ein verwirrender Irrlauf. Aber jetzt ist er endlich im Saal und damit im großen Glück.

Die Ovationen galten weniger den Musikern als den Architekten

Dieser Saal ähnelt trotz seiner Riesengröße einem kleinen, hellen und einladenden Vulkankrater, in dem das Publikum stets in Tuchfühlung auf vielen verwinkelt aufsteigenden Rängen rund ums Orchesterpodium sitzt. Einladend wirkte der Saal schon bei der Vorbesichtigung. Aber erst das Publikum verwandelt ihn in eine lebenswerte Stätte, an die jeder der Anwesenden gern zurückkehren wird. Das ist das größte Kompliment, das man so einem Bau machen kann. Und wer andere neue Konzertsäle kennt, weiß, wie selten man es machen kann. Die nicht enden wollenden Standing Ovations am Ende galten denn auch eher den Architekten als den Musikern.

Jacques Herzog sagt in seiner kurzen Rede, dass eine Stadt die petrifizierte Psyche ihrer Bewohner sei und die Architektur darin nur funktioniere, wenn sie auch geliebt werde. Dafür ist die Elbphilharmonie der beste Beweis. Herzog und de Meuron haben mit ihr ein Porträt der Hamburger geschaffen, mit dem sich diese, nichts anderes ist in den Pausengesprächen zu hören, begeistert identifizieren: außen schnittig wie eine Luxusjacht, innen überschaubar intim, bar aller Geheimniskrämerei, warmherzig, offen und stets leicht auf Distanz.

Anders als alle anderen Künste ist die Klassik mittlerweile zu einem Verwaltungsgewerbe der Großmeister von Bach bis Puccini geworden. Zeitgenössische Produktionen erreichen kaum je das breite Publikum. Das zeigt auch das Programm des Eröffnungsabends. Der Dirigent Thomas Hengelbrock und sein vor Ort als Residenzensemble verankertes NDR-Elbphilharmonie-Orchester spielen da mit großem Engagement und zum Entzücken der Kenner neuere Stücke von Henri Dutilleux, Rolf Liebermann, Olivier Messiaen, Bernd Alois Zimmermann und - als Uraufführung - "Reminiszenz" von Wolfgang Rihm.

Eher Vergangenheitsbeschwörung als Zukunftsmusik

Das führt die enormen Möglichkeiten von moderner Orchester- und Kompositionskultur vor Ohren. Aber gerade dieser pädagogische Impuls beweist die moderne Musikwelt vor allem als eine für Liebhaber und Kenner. Rihm, stets hellsichtig und auf der Spur des Zeitgeists, komponiert mit seiner emotionsgeladenen Musik seit jeher gegen dieses Ghetto an. Auch in den vier ganz auf Innerstes zielenden Tenorliedern der "Reminiszenz", die den Hamburger Orgelbauer und Brachialschriftsteller Hans Henny Jahnn porträtieren. Herausgekommen ist dabei, wieder einmal, ein Zwiegespräch zwischen Rihm und Richard Strauss. Beide ähneln sich in ihrer frappanten Metierbeherrschung, ihrem Glauben ans geniale Individuum sowie der Lust an großer romantischer Dichtung und Geisteswelt. Aber das ist doch eher Musik als Vergangenheitsbeschwörung denn eine der Gegenwart oder gar der Zukunft.

Häppchen-Programm wie aus dem Klassik-Radio

Zusammen mit Ouvertüren und Teilen aus Brahms- und Beethoven-Sinfonien ergibt das ein seltsames Häppchen-Programm wie aus dem Klassik-Radio, das das Feierbedürfnis des Publikums nicht so recht befriedigt. Die Anwesenden spüren genau, dass diese Eröffnung aus jedem nur denkbaren Rahmen fällt. Denn die Elbphilharmonie bedeutet nicht nur Bau-, Planungs- und Finanzskandale der Sonderklasse. Sie steht auch, Bundespräsident Joachim Gauck betont das in seinem launigen und wenig in die Tiefe gehenden Grußwort, für ein grandioses "bürgerschaftliches Engagement".

Viele Hamburger haben, gegen ihren Ruf, knauserige Pfeffersäcke zu sein, begeistert mitgemacht bei dieser - um mit Werner Herzog zu sprechen - "Eroberung des Nutzlosen", die ein neues Konzerthaus darstellt. Vielleicht weiß man gerade im nüchternen Kaufmänner-Hamburg viel besser als im feudal unterdrückten Süddeutschland um die Notwendigkeit der nutzlosen Musik fürs Menschendasein. Deshalb hielten sich die Hamburger schon vor 300 Jahren am Gänsemarkt das erste öffentliche Opernhaus Deutschlands.

Die Besonderheit dieses bürgerlichen Engagements der Hamburger will natürlich gefeiert werden. Also kommt die Anwesenden das in einer Demokratie zwar seltsame, aber scheinbar unwiderstehliche Bedürfnis an, den Einmarsch von Gauck, Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundestagspräsident Lammert und anderer Politiker nicht nur durch Beifall, sondern durch kollektives Aufstehen zu ehren. Der Dank der Bürger gilt ihren Anführern, dafür dass sie, trotz IS, Trump, Putin und ertrinkender Flüchtlinge, so prominent und zahlreich erschienen sind - um ein Konzerthaus und dessen Bürger zu bestaunen.

Der Akustiker Yasuhisa Toyota ist ein Star wie Jonas Kaufmann oder Anna Netrebko

Aber auch dessen Akustik, über die vor der Eröffnung allerlei Sensationelles berichtet wurde. Zumal dafür der von vielen Architekten und Musikern schon lange gepriesene Akustiker Yasuhisa Toyota verpflichtet wurde, der mit der Elbphilharmonie nun endgültig zum Star geworden ist. So wie Anna Netrebko oder Jonas Kaufmann. Wenn sich die Musikhistoriker künftiger Zeiten irgendwann einmal die Köpfe darüber zermartern werden, unter welchem Schlagwort sie das 21. Jahrhundert katalogisieren sollen, dann wird wohl die Mehrheit für "die Ära der Akustiker" plädieren.

Nun ist aber die Frage der Akustik letztlich zweitrangig, auch wenn sie in letzter Zeit zunehmend leidenschaftlich diskutiert wurde und zum Kernstück jedes Konzertsaalneubaus stilisiert wird. Sie kann hilfreich sein, aber sie entscheidet nicht darüber, ob ein Musiker gut spielt oder ein Konzert gelingt. Mit der guten oder schlechten Akustik eines Raumes muss sich ein Musiker abfinden, das gehört zu seinem Job. Natürlich singt und spielt es sich angenehmer, wenn der Saal die Töne mit Empathie und Wärme empfängt und anreichert, statt sie einem wie eine Totgeburt vor die Füße stürzen zu lassen.

So wie im Fall von Countertenor Philippe Jaroussky, der zusammen mit der Harfenistin Margret Köll frühe Barockstücke von weit oben aus einem der Ränge singt. Toyotas Raumakustik umschmeichelt Jarousskys hohen, leichten und leisen Sopran.

Ein Problem der Akustik? Oder des Dirigenten?

Wer aber Jaroussky schon an anderen Orten und unter schlechteren akustischen Bedingungen gehört hat, weiß, dass dieser Mann immer so gut singt: androgyn, distanziert und mit einer leichten Drohung in der Tonfärbung, irgendwo zwischen Sadismus und Exzess. Die Akustik Yasuhisa Toyota ändert rein gar nichts an Jarousskys phänomenalem Können. Sie erlaubt es aber dem Konzertbesucher, jede noch so feine Nuance seines Gesangs zu hören. Das allein ist schon grandios. Sollte Toyota etwa einen sehr, sehr großen Kammermusiksaal ertüftelt haben?

Dieser Eindruck drängt sich an diesem dreistündigen Abend immer wieder auf. Leises und Feines ist stets genau zu hören, da gibt es keine Nebel oder Undeutlichkeiten. Zudem gibt der Raumklang seine dunkle romantische Wärme ganz unangestrengt dazu. Am anderen Pol der Lautstärkeskala aber fällt der Eindruck anders aus. Allerdings muss man dazu sagen: Der Kritiker sitzt rechts über dem Orchester, weit oben, fast auf Augenhöhe mit dem in den Saal aus akustischen Gründen eingelassenen Riesenpilz. In dieser Höhe wird man nie von dem synthetisch kompakten, dennoch alle Instrumente erkennbar lassenden Klang umfangen. Der scheint ferner, als es die Musiker unten tatsächlich sind.

Vermutlich, weil die Kontrabassisten dem Kritiker den Rücken zukehren, sind sie nicht deutlich zu hören und klingen zudem gedämpfter als die angenehm präsenten Holz- und Blechbläser des NDR-Orchesters. Für diese wunderbaren Musiker mit ihren dunklen Schattierungen ist dieser Raum mit seiner Vorliebe für sonore Mittellagen ideal.

Problematischer präsentieren sich die Geigen. Die tönen bei Weitem nicht so rund und sonor wie ihre Bläserkollegen. Schnell geraten sie in lauteren Passagen in die Defensive, spleißen auf, wirken hölzern. Und geräuschhaft Gläsernes wie bei Dutilleux, auch das immer und überall zum Kreischen tendierende Piccologeflöte in Beethovens Neunter werden in ihrer Kratzigkeit verstärkt.

Aber ist das ein Problem der Akustik? Oder nicht doch eines des Dirigenten? Hengelbrock betätigt sich an diesem Abend als Allroundtalent, er hangelt sich durch alle erdenklichen Stile und Schulen. Alle Stücke geht er mit einer soliden Hemdsärmeligkeit an. Besondere Finessen, große Steigerungen, magische Momente lässt dieser betont nüchterne Zugriff aber nicht zu. Auch keine großen Klangentladungen.

Die große Frage ist: Wird es gelingen, auch klassikfernes Publikum zu begeistern?

Das tobende Finale von Messiaens "Turangalîla-Sinfonie" ist in seinem Furor durchaus dazu geeignet, jedem noch so großen Konzerthaus das Dach wegzureißen und gleichzeitig den Klang zu transzendieren, ihn in eine mythische Licht- und Sinnschau zu verwandeln. Glücklich, wer das so erlebt hat, denn davon findet sich nichts bei Hengelbrock. Der Klang bleibt Klang und die Lautstärke ist mittellaut. Möglich, dass die Saalakustik die Dynamik nach oben hin begrenzt. Möglich aber auch, dass Hengelbrock und die Seinen noch nicht wirklich entfesselnd laut und tonschön musizieren können.

Das kann erst die Zukunft zeigen. In dieser Zukunft dürfte die Akustik allerdings das kleinste Problem sein. Wie in allen anderen Konzerthäusern wird es stattdessen darum gehen, mehr klassikferne Menschen in die Veranstaltungen zu locken. Und zwar nicht nur in für Junge, Arbeitslose und Asylanten angebotene Konzerte, sondern in das reguläre Programmangebot, für das Namen wie Gardiner und Petrenko stehen, Kremer und Trifonov, Barenboim und Arditti. Das sei, gerade Joachim Gauck muss solche Sätze sagen, ein Gebot der Gerechtigkeit. Schließlich kosten neue Konzertsäle den Steuerzahler viel Geld. Jetzt ist es also an den Hamburgern, ob sie den scheidenden Bundespräsidenten als Gardinenprediger im Sturmregen am Kaiserhöft stehen lassen. Oder ob sie diese Aufforderung ernst nehmen.

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