"Der Schnee glänzt weiß auf den Bergen heut Nacht". Mit dieser Zeile beginnt die deutsche Version von "Let It Go", dem populärsten Lied aus dem Film "Die Eiskönigin - Völlig unverfroren". Mit dieser Zeile beginnt auch bei uns oft der Tag. Helene Fischer singt sie. Ausgerechnet.
Zum Glück hören wir "Lass jetzt los" noch öfter in der Interpretation unserer fünf Jahre alten Tochter. Morgens im Bad etwa, nach dem Zähneputzen; auf den Tuben von uns Eltern steht Aronal und Elmex, auf ihrer stehen Anna und Elsa. Oder tagsüber, wenn sie dazu in einer Strumpfhose herumtanzt, auf der die beiden Heldinnen des Films jeweils ein Bein schmücken. Oder abends, bevor sie mit ihnen einschläft, denn auch auf der Bettwäsche im Kinderzimmer sind die Schwestern abgebildet. Anna und Elsa gehören zu uns. Oder, wer es lieber kulturkritisch mag: Wir gehören ihnen.
Wer noch nie vom "weiß glänzenden Schnee in den Bergen heut Nacht" gehört hat, muss wissen: "Frozen", wie der Titel im Original lautet, ist ein Animationsfilm aus dem Jahr 2013, dessen Handlung ganz grob auf dem Märchen "Die Schneekönigin" von Hans Christian Andersen basiert. Irgendwann landete der Film auch bei uns im Wohnzimmer, und unsere Tochter war hingerissen. Das ist sie bei vielen Filmen, oft nur deswegen, weil es Filme sind. Die Begeisterung für den einen wird abgelöst von der für den nächsten. Aber bei Anna und Elsa ist es anders. "Die Eiskönigin" hält sich, nicht nur bei ihr, sondern auch bei vielen ihrer Freundinnen und, schaut man sich auf Reisen und im Internet um, tatsächlich auf der ganzen Welt.
Wie kann es sein, dass ein Film bei Kindern so viel stärker und nachhaltiger wirkt als alle anderen? Was hat "Die Eiskönigin", was andere nicht haben? Die Tochter antwortet: Blöde Frage, Papa, in echt jetzt. Die Disney-Leute in den USA antworten: Gute Frage, aber leider sind alle Beteiligten beschäftigt mit der Produktion des zweiten Teils, der 2019 in die Kinos kommen wird. Man muss die Anna-und-Elsa-Formel woanders suchen.
"Die Eiskönigin" ist selbst für Disney eine Ausnahmeerscheinung
Vielleicht fängt man am besten bei jemandem an, der die Sachen auf den Punkt zu bringen versteht. Max Ackermann lehrt Verbale Kommunikation. An der TH Nürnberg forscht er zudem über Storytelling, Drehbücher und narratives Design, und zu Hause hat er zwei "Eiskönigin"-kundige Töchter. Sein Formelvorschlag: "Retro plus Moderne plus Kinder plus Erwachsene plus Professionalität."
Retro heißt, dass es hier um Prinzessinnen geht, die in schönen Kleidern durch Schlösser tanzen und dazu Musical-Nummern singen. Im Vergleich zu früheren Werken sind die Prinzessinnen aber moderner, sprich: emanzipierter. Von Elsas übernatürlichen Kräften sind die Kinder auch fasziniert, weil sie Magie als Instrument ersehnter Selbstermächtigung begreifen, auch gegenüber Erwachsenen. Die hingegen finden die politischen Botschaften des Films spannend: Macht macht einsam. Als letzte Variable nennt Ackermann die Disney-Studios, ob ihrer Erfahrung, ihrer Professionalität und ihres Geschäftssinns.
So einfach ist das also.
"So einfach ist das leider nicht. Dafür gibt es zu viele Unwägbarkeiten", sagt Ackermann. Eine Einschränkung wäre schon mal: Die Disney-Studios dominieren allerspätestens seit 2006, seit sie den kreativeren Konkurrenten Pixar übernommen haben, den Animationsfilm.
Was sie anpacken, wird zu Gold, das heller glänzt als jeder Bergschnee. Aber "Die Eiskönigin" ist selbst für Disney eine Ausnahmeerscheinung: Er ist der erfolgreichste Animationsfilm überhaupt, hat seit 2013 mehr als eine Milliarde Euro eingespielt. Würde Disney das eigene Anna-und-Elsa-Geheimnis kennen, würde der Konzern nicht Filme wie "Vaiana" machen, der drei Jahre später nur die Hälfte des "Eiskönigin"-Geldes einspielte, trotz der gewohnt gnadenlosen Vermarktung und des technischen Aufwands.
Was also macht "Die Eiskönigin" so besonders? Jürgen Schopper lehrt in Nürnberg "Film und Animation", außerdem ist er Creative Director bei der ARRI Media GmbH. Er beantwortet die Frage mit "Erst mal nichts." Für ihn sieht die Geschichte von der "Eiskönigin" zunächst auch nur aus wie eine klassische Heldenreise, wie sie vielen Mythen und auch modernen Abenteuergeschichten zugrunde liegt: Der Protagonist begibt sich auf eine Mission, trifft Figuren, die sich ihm anschließen und seine Freunde werden, er muss Herausforderungen meistern, ihm wird der Weg gewiesen.
Aber es gebe, sagt Schopper, auch entscheidende Unterschiede zu traditionellen Heldenreisen: Der Held ist kein Draufgänger oder Prinz, sondern eine junge Frau, Anna, die ihre Schwester sucht. Diese wiederum wartet nicht wie in traditionellen Erzählungen passiv auf Rettung, sondern lebt in einem selbst gewählten Exil. Elsas Geschichte bekommt viel Platz im Drehbuch, das ist selten bei isolierten Figuren. Sie will ihre Ruhe haben. In "Lass jetzt los" singt sie: "Und ich schlag die Türen zu." "Das kennen Kinder doch von sich selbst, wenn sie sauer ins Zimmer gehen", sagt Schopper. Die Zuschauer wollen sich mit den Hauptfiguren identifizieren. Mädchen wollen heute Elsa sein.
Die Einsiedlerin Elsa ist überraschend beliebt beim Publikum. Nach Erscheinen des Films verkaufte Walmart mehr Puppen von Elsa als von Anna - insgesamt überholte "Die Eiskönigin" 2014 "Barbie" als erfolgreichste Spielzeuglizenzmarke für Mädchen. Viele amerikanische Eltern haben ihren neugeborenen Töchtern den Namen der Eiskönigin gegeben: 2013 noch belegte Elsa auf der Hitliste der Mädchennamen Platz 527, ein Jahr später war es Platz 286.
Dass auch mein Kind so verrückt nach der eisigen Prinzessin mit den magischen Kräften ist, wäre übrigens eine gute Nachricht, wenn wir einen Sohn hätten. Eine Studie der amerikanischen Brigham Young University aus dem Jahr 2016 belegt, dass Jungen von der Beschäftigung mit Prinzessinnen profitieren - sie werden empathischer, selbstbewusster und bekommen ein besseres Körpergefühl. Bei Mädchen hingegen verstärkt sich durch ausgiebige Schwärmerei für Prinzessinnen eher stereotypes Verhalten: Sie machen sich weniger gern dreckig, probieren seltener neue Dinge aus und trauen sich in Mathe und Naturwissenschaften weniger zu.