Süddeutsche Zeitung

Einziges Niemeyer-Haus in Deutschland:Monolith am Tiergarten

Der vor kurzem verstorbene Architekt Oscar Niemeyer hat in Berlin sein einziges Haus in Deutschland gebaut. Wie lebt es sich darin? Es gibt "halbe Wohnungen", Sonnenblenden müssen sich die Bewohner selber basteln und der Nachhall auf dem Flur ist beachtlich. Dennoch gilt: Wer einmal eingezogen ist, bleibt in aller Regel. Ein Bericht aus eigener Erfahrung.

Von Maike Wetzel

Seit letzter Woche stehen drei rote Rosen vor dem Aufzugsturm. Drei rote Rosen für Oscar Niemeyer, den Architekten unseres Hauses. Zehn Tage vor seinem 105. Geburtstag ist er verstorben. Seine Gebäude existieren weiter. In Deutschland hat er ein einziges gebaut. Im Berliner Hansaviertel, am Rand des Tiergartens, gleich neben dem Park von Schloss Bellevue, steht das von ihm entworfene Hochhaus. Es ist Niemeyers Beitrag zur Internationalen Bauausstellung 1957. Wohnen in einem Architekturdenkmal, Wohnen "im Niemeyer", wie gestaltet sich das? Wie lebt es sich in der sogenannten Stadt von morgen, die schon lange von gestern ist?

Die Umzugshelfer fluchten und forderten die doppelte Mannschaft an. Sie hatten die langen Wege im Inneren des Gebäudes unterschätzt. Der Aufzug hält nur in zwei Stockwerken, im fünften und im Dachgeschoss. Das oberste Stockwerk ist bis auf schmale Sehschlitze fensterlos, seine Wände sind mit Graffiti beschmiert.

Die fünfte Etage säumt ein breites Fensterband. Sie war von Niemeyer als Gemeinschaftsetage gedacht. Dieses Angebot nimmt allerdings selten jemand wahr. Manchmal spielen ein paar Kinder auf dem langen Gang. Der Nachhall macht aus den Geräuschen einer Handvoll Kinder das Geschrei von fünfzig.

Plötzlich siebzig Leute auf dem Flur

Beim kurzfristig anberaumten Hochzeitsempfang von neuen Bewohnern standen plötzlich siebzig Leute auf dem Flur. Wie viele davon aus Neugier auf das Gebäude kamen, war unklar. Die Rede der Trauzeugin jedenfalls geriet zum Architekturreferat. Liebe zum Design als verbindendes Element - das gilt nahezu für alle, die hier neu einziehen. Nur Architekten, Künstler und Dozenten bekämen einen Mietvertrag. So frotzeln manche Nachbarn. Dennoch ist die Hausgemeinschaft, was Generationen und Kulturen angeht, gut durchmischt. Etliche der ersten Bewohner leben bis heute im "Niemeyer". Von einer dieser Familien leben inzwischen drei Generationen hier.

Fremden beschreibe ich unser Haus meist anhand der V-Stützen, auf denen es ruht. Darum nennt man es "Spitzbein". Das Haus sollte "schweben". Bei Niemeyers brasilianischen Bauten entsteht dieser Eindruck. Die Stützen dort sind viel höher, schlanker und runder. Das Untergeschoss seines Hopitals Sul-América ist hell und großzügig. In Berlin aber haben die Piloti einen stumpfen Winkel - so wirken sie, als drücke das Gewicht des Hauses sie nieder.

Schwerfällig gestaltete sich auch der Austausch zwischen dem Architekten und der Berliner Baubehörde. Bei der Eröffnung der "Interbau 1957" befand sich Niemeyers Gebäude noch im Rohbau. Es wurde erst im Verlauf der Ausstellung fertiggestellt. "Die sehr lang erscheinende Zeit dafür ist einmal in der sehr komplizierten Person Herrn Niemeyers begründet (...) Zudem ist Herr Niemeyer eine solche Größe am internationalen Architekturhimmel, dass er sich jede noch so geringfügige Kritik an seiner Arbeit verbittet." So schrieb der Bauleiter Gerd Biermann 1956 in einem Brief. Was war geschehen?

Der Berliner Senator für Bau- und Wohnungswesen hatte Niemeyer zu etlichen Änderungen an seinem Entwurf aufgefordert. Ursprünglich wollte Niemeyer höher hinaus: Er plante mehr Stockwerke sowie höhere und schlankere V-Stützen unter dem Gebäude. Der Senat zwang ihn, die Geschosszahl auf acht zu reduzieren. Sowohl das Verteilergeschoss als auch die ursprünglich geplanten Treppen im Aufzugsturm sowie Zugangsbrücken zu jeder Etage leuchteten der Behörde nicht ein.

Als gutes Vorbild für die Erschließung legte der Senator die Pläne für das Nachbarhaus von Egon Eiermann bei. Diese Belehrung hat Niemeyer wahrscheinlich noch mehr verärgert. Ebenfalls gestrichen wurden ihm Stahlfenster mit dünnen Rahmen und die in nördlichen Breitengraden angeblich überflüssigen Sonnenblenden. Die V-Stützen fand die Berliner Behörde eigentlich auch zu teuer. In die Gemeinschaftsetage wurden auf der Ostseite schließlich "halbe" Wohnungen eingebaut. Die Zugangsrampe von der Altonaer Straße wurde auch erst später errichtet. Mit Niemeyers Treppen hatte es zu viele Unfälle gegeben.

Die "Größe am internationalen Architekturhimmel" spielte auf Zeit

Während der Bauphase war Niemeyer dann nicht mehr verhandlungsbereit. Er hüllte sich monatelang in Schweigen. Der Bauleiter Gerd Biermann wurde nach Rio entsandt. Erst nach einem Monat Arbeit in Niemeyers Büro gelang es ihm, den Entwurf an die Richtlinien des sozialen Wohnungsbaus anzupassen.

Niemeyer spielte auf Zeit: Er wusste, dass die Verantwortlichen bei der "Interbau 1957" unter starkem finanziellen und sowieso unter Termin-Druck standen. Einen neuen Architekten konnten sie sich nicht leisten. Am Ende berücksichtigte Niemeyer die meisten Änderungswünsche gar nicht. Probleme mit der Heizungsanlage beispielsweise blieben ungelöst.

Heute leben wir im "Niemeyer". Der Osten und der Westen Berlins liegen uns zu Füßen, direkt vor unserem Fenster der grüne Teppich des Tiergartens. Sonnenblenden müssen sich die Bewohner des Hauses nun selber basteln. Die Wohnungen fließen über vor Licht. Oscar Niemeyer mag mit seinem Berliner Haus nicht ganz zufrieden gewesen sein. Doch wer hier eingezogen ist, verlässt das "Niemeyer" oft sein Leben lang nicht mehr.

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SZ vom 15.12.2012/pak
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