Einwanderung:Deutschland fehlt ein zeitgemäßes Konzept vom Deutschsein

FIFA Fanfest in Berlin

Fans auf der Fanmeile: Bei guter Laune spielt Herkunft in Deutschland keine Rolle. Aber nur dann.

(Foto: SvenSimon)

Wer gehört zur Nation? Weil die Begriffe schwammig sind und die Definitionen fehlen, tut sich Deutschland mit "den Anderen" so schwer.

Von Jörg Häntzschel

Mesut Özils Rücktritt aus der Nationalmannschaft und die gehässigen Reaktionen hätten Deutschlands Entwicklung hin zu Offenheit und Toleranz um Jahre zurückgeworfen, hieß es in den vergangenen Tagen. Liest man aber die Berichte von Rassismus und Diskriminierung, die Einwanderer seit zwei Tagen unter dem Hashtag "Me Two" im Netz schreiben, muss man dankbar sein für das, was passiert ist. Immerhin ist jetzt klar, dass das Einwanderungsland Deutschland weder ein zeitgemäßes Konzept von Einwanderung noch eines vom Deutschsein hat.

Ist von Einwanderung die Rede, fällt sofort der "Wir schaffen das"-Satz. Doch es ist ein anderes Merkel-Wort, das es verdient hätte, Geschichte zu machen: "Das Volk ist jeder, der in diesem Lande lebt." Sie sagte das 2017 und sprach damit AfD und Pegida das Recht ab, im Namen des Volkes Hass zu verbreiten. Und doch ist nicht vorstellbar, dass der Satz nicht auch als verdeckte Anregung zu einer überfälligen Debatte um deutsche Einwanderung verstanden werden sollte.

Als in den Sechzigerjahren die Züge mit den "Gastarbeitern" in Dortmund und Gelsenkirchen einfuhren, waren die Verhältnisse noch klar: Die Italiener und Türken brauchten Jobs, die deutschen Firmen Arbeitskräfte. So hart ihr Leben war, so furchtbar der Rassismus, so erwünscht durften sie sich einen Moment lang fühlen. Seitdem wurde es besser, aber auch immer komplizierter. Und obwohl ihre Kinder und Kindeskinder heute auch Anwälte, Filmemacher oder Bundestagsabgeordnete sind - oder eben Fußballstars - hat sich eines nicht verändert. Deutschland hat keine Vorstellung vom Deutschsein, das nicht ethnisch definiert ist. Die gängige Definition der Zugehörigkeit zur Nation hinkt damit sogar der rechtlichen um Jahrzehnte hinterher.

Özil ist das beste Beispiel dafür. 1988 in Gelsenkirchen geboren worden zu sein genügt zwar, um einen deutschen Pass zu besitzen und in der Nationalmannschaft zu spielen. Doch es bewahrt einen nicht davor, auf alle Ewigkeit als "Deutschtürke" bezeichnet und als falscher Deutscher ausgepfiffen zu werden. So verdammenswert das Foto mit Recep Tayyip Erdoğan war - daran, dass in Özils Brust "zwei Herzen" schlagen, ist Deutschland mitschuldig.

Am deutlichsten ist das an der verzweifelten Suche nach Begriffen zu erkennen, in die man die Einwanderung zu fassen versuchte. Erst wurden "Gastarbeiter" und "Fremdarbeiter" durch das weniger ausbeuterische klingende "Ausländer" abgelöst. Doch damit war die Einwanderung begrifflich genau dort angesiedelt, wo die Ressentiments gegen das Fremde sitzen. Alle Versuche, das Wort positiv zu drehen, mussten scheitern.

Der Slogan "Mein Freund ist Ausländer", 1992 auf Bundesligatrikots gedruckt, machte damals klar, dass die Umarmung des Fremden noch nicht denkbar war, ohne das Trennende zu bekräftigen. Selbst mit dem Spruch "Alle Menschen sind Ausländer. Fast überall" gelang es nicht, dem Dualismus von fremd und heimisch zu entkommen. Und auch die Klage über Fremdenfeindlichkeit hinterfragt nicht das Konzept von Fremdheit. Eine Weile lang ließ man sich herab, von "ausländischen Mitbürgern" zu sprechen. Doch der Schwindel war offensichtlich, denn Bürger durften viele von ihnen ja gerade nicht werden.

Die vorläufig letzte Etappe dieser Begriffsgeschichte markiert der "Mensch mit Migrationshintergrund", der sich als vermeintlich nicht-diskriminierender Ersatz für das juristisch weiterhin verwendete "Ausländer" durchgesetzt hat. Doch auch hier gibt es einen Haken. Zum einen verschattet und problematisiert der Begriff jede Form der Einwanderung, auch die des für drei Jahre in Deutschland arbeitenden Microsoft-Managers, durch die tristen Bilder von Flucht und Entbehrung, die er aufruft. Zum anderen verzerrt er die Statistiken, weil er alle zu "Migranten" erklärt, die nur einen nicht-deutschen Elternteil haben. Nehmen wir die Familie des Autors dieses Textes: italienische Frau, zwei Kinder, von denen eines in München, eines in New York geboren wurde. Welchem biopolitischen Zweck dient es, dass drei dieser vier als Personen mit Migrationshintergrund gelten? Es gibt viele Kinder kürzlich eingewanderter Menschen, die es schwer haben und die jede Hilfe verdienen. Doch einem Großteil der 55 Prozent Münchner Kinder mit Migrationshintergrund geht es bestens. Warum wird es heute für sinnvoll und wichtig gehalten, derart obsessiv und über Generationen hinweg echte und falsche, reine und Halbdeutsche zu sortieren?

Wer deutsch geworden ist, ist es nur auf Bewährung

Es ist kein Zufall, dass der 2005 eingeführte "Migrationshintergrund" den Erleichterungen bei der Einbürgerung unmittelbar folgte: der doppelten Staatsbürgerschaft und der Ersetzung des ius sanguinis, das für die deutsche Nationalität eines Kindes die deutsche Nationalität der Eltern voraussetzt, durch eine liberalere Variante. Es genügt seitdem, dass ein Elternteil bei der Geburt seit acht Jahren in Deutschland wohnt.

Man erleichterte also die Einbürgerung, behielt aber den Outsider-Status als statistische und demografische Kategorie bei und erweiterte diese noch. Nicht nur die erste, auch die zweite Generation verbringt ihr Leben mit "Migrationshintergrund" in der Statistik. Auch wenn damit keinerlei Diskriminierung verbunden ist, fragt man sich: wozu? Den meisten Deutschen ist der "Migrationshintergrund" andererseits zu unspezifisch, sie erfinden laufend neue, immer differenziertere Begriffe: Deutschtürken und Kosovodeutsche, türkische Einwanderer der zweiten Generation und Asylanten, Asylbewerber, Migranten und Geflüchtete, Geduldete und Anerkannte, und nicht zu vergessen: die Russlanddeutschen, die Spätaussiedler, die Vertriebenen.

Özil hat darüber schon 2012 geklagt: "Ich habe in meinem Leben mehr Zeit in Spanien als in der Türkei verbracht - bin ich dann ein deutsch-türkischer Spanier oder ein spanischer Deutschtürke? Warum denken wir immer so in Grenzen?" Aus den Ausländern, den unspezifisch Anderen, wurden also nicht Menschen, sondern lauter spezifisch Andere. Das war oft nur gut gemeint. Im "Mainstream der Minderheiten", nach der Idee der multikulturellen Gesellschaft der Neunzigerjahre, sprach man jeder Untergruppe das Recht auf ihre eigene Identität und Kultur zu. Man hielt es für ebenso diskriminierend, den anderen auf seine Fremdheit zu reduzieren wie diese zu ignorieren. Danach ist es auch nicht antisemitisch, Maxim Biller als "deutsch-jüdischen Schriftsteller" zu bezeichnen.

Dennoch ist es merkwürdig, wie hartnäckig sich quer durch das ideologische Spektrum das Bedürfnis hält, jeden auf seine ethnische, religiöse und kulturelle Herkunft abzuklopfen. Es ist erst gestillt, wenn alle Abweichungen von der "biodeutschen", christlichen Norm benannt sind, die dabei als Standard angelegt wird. Berufen sich die Einwanderer aber auf die Identität, die ihnen die Deutschen ständig aufdrängen, tragen sie also zum Beispiel als Musliminnen das Kopftuch, hält man ihnen mangelnde Integration vor.

Die Konsequenz daraus ist, dass die verächtlich "Passdeutschen" genannten, auch die der zweiten Generation, die Özils also, sich ihrer deutschen Staatsbürgerschaft täglich neu würdig erweisen müssen. Die Sorge um ihre Integration dient als Rechtfertigung dafür, sie unter verschärfte Beobachtung zu stellen. Wie erfolgreich sind sie in der Schule? Welche Berufe ergreifen sie? Sie brauchen Unterstützung, aber sie brauchen auch Kontrolle. Man hat ihnen den deutschen Pass zugestanden, aber weil ihnen die deutschen Gene fehlen, droht immer ein Rückfall in die Verhaltensmuster der Herkunftsgesellschaften. Was auch immer sie tun, es wird im Kontext ihrer Herkunft gesehen.

Frankreich, Spanien, Portugal und Großbritannien tun sich leichter

Sind sie erfolgreich in Schule oder Beruf, erhalten sie paternalistisches Lob. Toll, bei diesem Hintergrund! Scheitern sie, werden sie kriminell, steht ihre Eignung für die deutsche Gesellschaft infrage. Und seit 9/11 steht bei den Muslimen unter ihnen noch ein anderer Verdacht im Raum: Sie könnten sich radikalisieren, das Land verraten, das sie so großzügig aufgenommen hat. Deshalb war es unproblematisch, dass Lothar Matthäus sich mit Putin getroffen hat. Aber skandalös, dass sich Özil mit Erdoğan traf. Wer deutsch ist, ist es für immer, wer deutsch geworden ist, ist es nur auf Bewährung.

Da es keine Quoten gibt, kein Äquivalent zur amerikanischen Green-Card-Lotterie, vor allem aber kein Einwanderungsgesetz, wird Einwanderung nach Deutschland weiterhin nicht als Normalität, sondern als humanitäre Hilfe verstanden, als staatlicher Gnadenakt. Diese Sichtweise färbt auch die Bereiche der Einwanderung, in denen es einklagbare Rechte gibt.

Warum also tut sich Deutschland so schwer damit, Einwanderung und Fremdheit zu akzeptieren? Die plausibelste Erklärung ist die der "spätgekommenen Nation". Während ein Land wie Frankreich seine nationale Einheit jahrhundertelang praktiziert hat, steht deren Tragfähigkeit in Deutschland danach immer noch in Zweifel. Während Frankreich ein breites Fundament der "Zivilisation" ausgebildet hat, definierte sich der Zusammenhang der deutschen Kleinstaaten über die Kultur, mit dem Effekt, dass Menschen zwar nominell aufgenommen werden können, aber dennoch ausgeschlossen bleiben.

Es gibt viele andere Gründe. Die Tatsache etwa, dass Deutschland - anders als Spanien, Frankreich, Portugal oder Großbritannien - keine Einwanderung aus ehemaligen Kolonien kennt. Dass es alle Nicht-Deutschen und Nicht-Christen in der NS-Zeit entweder zur Flucht zwang oder ermordete und damit jene Reinheit erst herstellte, die heute als angebliches Ur-Ideal des deutschen Volkes noch in den Köpfen herumspukt. Nach dem Krieg, bis zum Fall der Mauer war die Wiedervereinigung vordringlicher als die Einwanderung. Und danach war die Integration der Ostdeutschen wichtiger als die von Türken.

Es ist aber nicht Nationalismus, der es den Deutschen so schwer macht, das Fremde bei sich zuzulassen. Aus dem Definitions- und Differenzierungswahn, mit dem das Fremde eingehegt und ungefährlich gemacht werden soll, spricht vor allem die Unfähigkeit, einen Begriff von sich selbst zu finden.

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