Einsamkeit in Zeiten des Internets:Wallfahrt mit iPhone

Die niederländische Königin klagte im vergangenen Jahr über die Kälte in der Welt - schuld daran sei natürlich das Internet. Ein Untertan will nun auf einer 10.000 Kilometer langen Wanderung beweisen, dass das Netz die Menschen nicht schlechter macht.

Alex Rühle

Man hört den Atem, eine Krähe, ab und zu ein Auto. Und im Hintergrund raschelt es immer wieder. "Laub," sagt Wijnand Boon, "ich laufe immer noch durch Herbstreste." Er schnauft in sein iPhone, zehn Kilometer hat er heute schon, 25 muss er auf jeden Fall noch laufen bis Einbruch der Dunkelheit. Aber sein Körper hat sich mittlerweile daran gewöhnt, "außerdem ist es heute wieder so schön, die romanischen Kirchen, die Hügel, vorhin der verrostete Peugeot mit der Ziege auf dem Dach ..."

Einsamkeit in Zeiten des Internets: Wijnand Boon ist Mitte September ...

Wijnand Boon ist Mitte September ...

Wijnand Boon ist an diesem Vormittag auf einer kleinen Landstraße in Zentralfrankreich, irgendwo zwischen Poitiers und Bordeaux, unterwegs. Zwar nicht im Auftrag des Herren, aber doch auf einem der vielen Pilgerwege, die nach Santiago de Compostela führen. Boon weiß noch nicht, wo er heute Nacht schlafen wird, ist aber guter Dinge, schließlich hat es die vergangenen 70 Nächte auch immer geklappt.

Unterkunftsuche via Couchsurfing

Das Besondere an dieser Pilgerreise eines Atheisten: Wijnand Boon sucht sich seine Unterkünfte ausschließlich über Facebook, Couchsurfing und andere soziale Netzwerke. Daran ist Beatrix schuld. Die niederländische Königin klagte im vergangenen Jahr in ihrer Weihnachtsansprache über die Kälte in der heutigen Welt und wusste glücklicherweise auch, wer schuld daran war: Das Internet. Facebook. All die sozialen Netzwerke, in denen man anonym bleiben kann. Wie wunderbar sei es dagegen zu Josephs und Marias Zeiten gewesen: Die hätten irgendwo angeklopft, schon hätten sie ein Dach über dem Kopf.

Einsamkeit in Zeiten des Internets: ... im niederländischen Leiden aufgebrochen ...

... im niederländischen Leiden aufgebrochen ...

Wijnand Boon fand die Gegenüberstellung von warmer Zwischenmenschlichkeit in analogen Zeiten und sozialer Eiseskälte in der Ära des Internets so holzschnittartig, klischeehaft und schlicht falsch, dass er sich vornahm, das Gegenteil zu beweisen. Der niederländische Journalist und Musiker schrieb seiner Königin einen Brief, in dem er die Spielregeln aufstellte für sein mobiles Experiment: "Am elften September werde ich mich auf eine Reise nach Santiago de Compostela, Rom und Jerusalem begeben. Ich werde in Leiden starten und jeden Meter zu Fuß gehen."

Unterschlupf bei Glaubensbrüdern

Einsamkeit in Zeiten des Internets: ... und will über Santiago de Compostela und Rom ...

... und will über Santiago de Compostela und Rom ...

Da sich Beatrix in ihrer Ansprache auf Joseph und Maria bezogen hatte, beschloss er, entlang der uralten Pilgerwege zu wandern, dieser christlichen Meridiane, die ein unsichtbares Netz über Europa legen: "Die mittelalterlichen Pilger hatten nur einen Löffel und eine Tasse im Gepäck und waren darauf angewiesen, dass sie Unterschlupf bei ihren Glaubensbrüdern finden.

Ich habe ein iPhone dabei und ich bin in dem festen Glauben unterwegs, dass man auch heute und gerade mit Hilfe sozialer Netzwerke immer eine helfende Hand finden kann."

Das Problem Freundlichkeit

Einsamkeit in Zeiten des Internets: ... bis nach Jerusalem wandern. Er will ...

... bis nach Jerusalem wandern. Er will ...

Beatrix hat nicht auf den Brief reagiert, Boon machte sich trotzdem auf den Weg. Mittlerweile hat er 800 Kilometer geschafft und musste noch nie in einem Hotel, geschweige denn in einem Stall nächtigen. Er hat bei einem Fußpfleger, einem Zimmermann und dem Führer der Kathedrale von Amiens übernachtet, in Studenten-WGs, bei Arbeitslosen, Kleinfamilien und Bauern (man kann Boons Reise übrigens Tag für Tag auf www.twalkwithme.eu verfolgen). Es ist fast jedes mal so nett bei den ihm unbekannten Menschen, dass er oft mit Schlafentzug kämpft: "Ich habe mit vielen Schwierigkeiten gerechnet, aber mein größtes Problem ist die Freundlichkeit der Leute, die mich beherbergen. Bei den meisten ist es so interessant, dass ich immer in Versuchung bin, einen Tag Pause einzulegen."Das aber kann er schlecht, der Winter naht, und er muss ja noch über die Pyrenäen.

Boon hatte Königin Beatrix in seinem Brief eingeladen, ihn doch einen Tag lang zu begleiten. Die hatte anderes zu tun, ließ aber ausrichten, sie habe Kenntnis genommen von seinem Experiment. Wenn Beatrix aber schon keine Zeit zum Couchsurfen hat, so sollte sie in der Adventszeit wenigstens mal wieder im Lukasevangelium lesen: Maria und Joseph fanden damals, in den güldenen Zeiten ohne Netz, eben keinen Platz in der Herberge. Überall wurde der hochschwangeren Maria die Tür gewiesen, sie musste ihr Kind in einem zugigen Stall zur Welt bringen. Das erinnert weniger an eine Analogidylle als an Haiti.

Keine kontaktarmen Sonderlinge

Einsamkeit in Zeiten des Internets: ... der niederländischen Königin Beatrix zeigen, ...

... der niederländischen Königin Beatrix zeigen, ...

Vor allem aber sollte sich Beatrix eine aktuelle Studie des Münchner Instituts für Wirtschaftsforschung zu Gemüte führen, die das Vorurteil, das Internet sei ein Medium kontaktarmer Sonderlinge, die sich nur digital vernetzen, in der realen Welt aber sozial vereinsamen, widerlegt: Die Volkswirtschaftler Ludger Wößmann, Stefan Bauernschuster und Oliver Falck untersuchten das Sozialverhalten von 18.000 Personen, wobei sie sich für ihr Experiment eine unvorhergesehene technische Entwicklung zunutzemachten: Im Osten Deutschland gibt es Gebiete, die noch immer nicht über schnelle DSL-Anschlüsse verfügen, wodurch die Internetverfügbarkeit dem Zufall und nicht einer persönlichen Aversion oder Zuneigung geschuldet ist.

Die Zahlen sind eindeutig: Leute, die regelmäßig das Internet nutzen, engagieren sich öfter ehrenamtlich und politisch, gehen häufiger ins Theater, in die Kneipe oder zu Sportveranstaltungen und haben einen größeren Bekanntenkreis als diejenigen, die keinen Netzzugang haben.

Einsamkeit in Zeiten des Internets: ... dass Menschen durch soziale Netzwerke nicht verkommen.

... dass Menschen durch soziale Netzwerke nicht verkommen.

Und der Papst?

Der Papst ist da anderer Meinung: Benedikt XVI. sagte vor zehn Tagen Ähnliches wie die niederländische Königin in ihrer Ansprache: Das Internet erhöhe das Risiko von Einsamkeit und sozialer Desorientierung und mache junge Menschen "empfindungslos". Boon bleibt auf der Straße stehen, als er das hört und sagt: "Oh, schade, den wollte ich doch besuchen, wenn ich im Sommer nach Rom komme.

Aber vielleicht sollte ich es jetzt erst recht versuchen. Vielleicht kann ich ihm ja erklären, dass das Problem an solchen Behauptungen ist, dass man das Medium verantwortlich macht für den Missbrauch, der damit getrieben werden kann." Dann ist er weg - eines der vielen Funklöcher, durch die der digitale Pilger Wijnand Boon im Hinterland Frankreichs unterwegs ist.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: