Süddeutsche Zeitung

Eine Welt ohne Urheberrecht:Krieg den Palästen, Friede den Künstlern!

Schafft das Urheberrecht ab! Zerschlagt die Firmenimperien! Es wird zum Nutzen der Kunstschaffenden sein. Die Antwort auf Lawrence Lessings Creative-Commons-Initiative.

Joost Smiers

Als Wirtschaftsminister wäre ich äußerst beunruhigt. Der Viacom-Konzern, Eigentümer von MTV und Paramount, fordert von YouTube aufgrund mehrfacher Missachtung des Urheberrechts die Zahlung von einer Milliarde Dollar und zieht deshalb vor Gericht. Vor einigen Monaten kaufte Google YouTube für 1,65 Milliarden Dollar. Tagtäglich werden wir mit solchen Beträgen konfrontiert. Wir sehen, wie es mit Industrien, in die astronomische Summen investiert wurden, abwärts geht, da ihr Schutzmechanismus - das Urheberrecht - zerbröckelt und wegbricht.

Man muss blind sein, um nicht zu merken, dass die Tage des Urheberrechts gezählt sind. Selbst die massive Kriminalisierung von Schwarzbrennern und anderen Nutzern künstlerischen Materials ist wirkungslos. Bei jedem Wirtschaftsminister sollten folglich die Alarmglocken läuten: Die Milliarden und Abermilliarden, die in die Kulturindustrie geflossen sind, werden gerade wertlos.

Überleben ungewiss

Was die Produktions-, Distributions- und Werbekonditionen von Kunst und Kultur betrifft, so ist ein radikaler Wandel nötig. Die von Lawrence Lessing ins Leben gerufene Creative-Commons-Initiative gibt nicht einmal ansatzweise Antwort auf die gefährliche wirtschaftliche und kulturelle Situation, auf die wir reagieren müssen.

Creative Commons klammert nämlich vier Fragen aus: Das Konzept verrät nicht, wie Künstler und Produzenten in einem System, das auf wechselseitigem Teilen basiert, überleben können. Für jemanden, der einen reichen Onkel hat, ist das eine feine Sache, doch sollten wir uns unserer Verantwortung hinsichtlich der Entlohnung aller Kulturschaffenden stellen. Die meisten von ihnen erhalten auch im gegenwärtigen Urheberrechtssystem keine angemessene Vergütung für ihre Arbeit. Unsere Verantwortung für sie und ihr Einkommen sollte ganz oben auf der Agenda stehen.

Diktatur der Kultursupermächte

Der zweite Schwachpunkt von Creative Commons liegt in der festen Überzeugung, der Künstler selbst solle Eigentümer seiner Werke sein. In keiner Kultur, nirgendwo auf dem Erdball - außer in der westlichen Welt und auch dies erst seit ein paar hundert Jahren - existierte der Begriff des "Eigentums" in Bezug auf künstlerische Ausdrucksformen. Ja, das Prinzip des geistigen Eigentum lag jenseits aller Vorstellung. Es war anerkannte Kunstform, Werke nachzuahmen und zu kopieren. Im Zuge der Digitalisierung ist dieses Prinzip der Imitation nicht mehr aufzuhalten.

Die dritte Schwachstelle von Creative Commons ist, dass es sich eine Welt mit völlig anderen Marktverhältnissen, eine Welt ohne Urheberrecht, in der Künstler und Kulturproduzenten mit ihrer Arbeit dennoch gutes Geld verdienen, nicht einmal theoretisch vorstellen kann; ich werde im Folgenden versuchen zu erklären, wie solch eine Welt funktionieren könnte. Das vierte und gravierendste Manko an Creative Commons ist, dass es das Problem der Kulturmonopolisten in allen Sparten außer acht lässt; der riesigen Konzerne, die - ob nun in Musik, Film oder Literatur - alleine darüber bestimmen, was geschaffen, gesehen, gehört wird und in welcher Umgebung wir Kunst und Kultur zu rezipieren haben.

Diese Kontrollmacht schadet der Demokratie und stellt eine Bedrohung für unser Recht auf freien Informationsaustausch dar. Creative Commons ist nur ein Instrument für diejenigen, die ich zynisch die "Koalition der Willigen" nenne. Disney und all die anderen Kultursupermächte aber werden die Werke, an denen sie die Rechte "besitzen", niemals an Creative-Commons abtreten.

Seite 2: In einer Welt ohne Uhrheberrecht und Kluturmonopole.

Mein Lösungsvorschlag verfolgt zwei Ansätze: zum einen die vollständige Abschaffung des Urheberrechts. Zum anderen müssten die Kulturmonopolisten aufgesplittet werden in viele kleine Unternehmen. Sehen wir uns zunächst an, was geschehen wird, wenn wir das Urheberrecht abschaffen. Dabei sollten wir im Hinterkopf behalten, dass dieses System derzeit seine Legitimität verliert und dass die Kulturindustrie immer größere Schwierigkeiten dabei hat, am Urheberrecht festzuhalten und es durchzusetzen.

Wir sollten uns bewusst werden, dass das Urheberrecht einem Kunstwerk lediglich als Schutzschicht dient. Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass Künstler, ihre Agenten und Produzenten Unternehmer sind. Was rechtfertigt die Tatsache, dass ihre Arbeit mehr Schutz erfährt als die anderer Unternehmer? Immerhin haben sie auf viele Jahre hin monopolartige Kontrolle über ihr Werk. Warum können sie ihr Produkt nicht einfach auf dem freien Markt anbieten und versuchen Käufer dafür zu finden?

Was geschieht, wenn das Urheberrecht abgeschafft wird? Plötzlich wäre es dann für die Großen der Kulturindustrie nicht weiter von Interesse, sich so stark auf die gewinnbringendsten Bücher, Filme und Stars zu konzentrieren. Denn ohne Urheberrecht sind diese Werke frei verfügbar. Somit verlieren die Giganten der Kulturindustrie nicht nur ihre Exklusivrechte an den Werken, sie verlieren auch ihre herrschende Marktposition, die so viele Künstler von der öffentlichen Wahrnehmung ausschließt.

Teilhabe am kulturellen Leben

Der Markt würde sich normalisieren, was vielen Künstlern die Möglichkeit gäbe, ihre Arbeit zu zeigen, sich einen Namen zu machen und mit dem, was sie tun, Geld zu verdienen. Außerdem würde ein normalisierter Kulturmarkt weitaus mehr Künstlern die Chance geben, sich einen Ruf zu erwerben, eine Art Marke aufzubauen, die anschließend dazu genutzt werden könnte, sowohl mehr als auch teurer zu verkaufen.

Bevor wir über die Tatsache diskutieren, dass in Zeiten der Digitalisierung jedes Werk rasend schnell kopiert werden kann, sollten wir uns auf das Problem der Monopolstruktur einiger Kulturindustrien konzentrieren. Marktmonopole müssen mittels Wettbewerbspolitik zerschlagen werden. Der Neoliberalismus hat in unseren Köpfen die falsche Vorstellung eingepflanzt, dass wir dem Wachstum von Unternehmen keine Grenze ziehen dürfen.

Was aber den sensiblen Bereich künstlerischer Produktion betrifft, so sollten wir nicht tolerieren, dass der Kulturmarkt nur von ein paar Aktiengesellschaften und deren Teilhabern beherrscht wird. Wie gesagt, die Demokratie und das menschliche Recht auf Kommunikationsfreiheit und auf Teilhabe am kulturellen Leben sind in Gefahr. Vier Musik-Konglomerate beherrschen achtzig Prozent der Musik weltweit; eine Handvoll Film- und Verlagskonsortien teilen sich den Kulturmarkt und sind auch noch untereinander stark vernetzt.

Die WTO als Riesenzirkus

Was ist folglich zu tun? Die Abschaffung des Urheberrechts würde zu einem bedeutenden Machtverlust der heutigen Kulturindustrie führen, doch bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass ihre Herrschaft ein Ende hätte. Etablierte Unternehmen würden weiterhin Produktion, Distribution und Marketing von Kulturgütern fest in ihrer Hand behalten. Das ist ja gerade ein Grund für ihren anhaltenden Erfolg: die absolute Macht über Kunstwerke, von deren Herstellung bis hin zum Endverbraucher.

Und dieses Distributionsmodell bestimmt auch, welche Filme, welche Bücher und welche Theaterproduktionen wir rezipieren. Darum muss der Kulturmarkt stärkeren Wettbewerbsregeln unterworfen werden. Die großen Firmen müssen verkleinert werden, so dass einzelne Unternehmen keinen entscheidenden Einfluss mehr darauf haben, was wir sehen, hören, lesen.

Seite 3: Warum sich Anwälte kaum mehr lohnen und ungeschriebenes Recht an Bedeutung gewinnt.

Deshalb müssen wir jeden Winkel des Kunst- und Kulturmarktes erkunden und festhalten, welche Unternehmen es überhaupt gibt, wie groß sie sind, wie sie vernetzt sind und welche Marktanteile sie haben. Wenn wir das wissen, müssen wir Beschränkungen einführen und überlegen, wie wir Unternehmen, die zu groß und zu dominant sind, in kleinere Einheiten aufsplitten können. Davor dürfen wir nicht zurückschrecken. Es ist ein neoliberales Missverständnis, zu glauben, dass Märkte umso mehr florieren, je weniger reguliert sie sind.

Dennoch mag es vielleicht enttäuschend sein, zu erfahren, dass nirgendwo und zu keinem Zeitpunkt der Geschichte unregulierte Märkte existiert haben. Und ist die WTO nicht ein Riesenzirkus, der den Markt so steuert, dass vorwiegend westliche Großkonzerne den Erdball beherrschen? Das erst vor kurzem ratifizierte "Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen" der Unesco ist ein hilfreiches Instrument, um eine grundlegende Veränderung des Kulturmarktes zugunsten eines vielfältigeren künstlerischen Ausdrucks zu erreichen, sowohl in inhaltlicher als auch in ökonomischer Hinsicht.

Wer klaut, wird gebrandmarkt

Wenn der Markt allen die gleichen Wettbewerbsbedingungen bietet, kann das für viele Künstler von Vorteil sein, auch im digitalen Zeitalter. Musiker werden das meiste Geld mit ihren Konzerten verdienen, und es ist davon auszugehen, dass die Fans für eine CD oder den Download eines Songs bezahlen werden. Viele Musiker werden nicht länger durch die Marketingstrategien der vier großen Musik-Konglomerate von der öffentlichen Wahrnehmung ausgeschlossen.

Noch ein Beispiel: ein Schriftsteller schließt mit einem Verlag einen Vertrag ab, so wie das heute üblich ist. Der Verlag veröffentlicht das Buch. Natürlich könnte Tags darauf ein anderer Verlag das Buch ebenfalls herausgeben. Doch ist dies wahrscheinlich? Natürlich nicht. Am selben Tag könnten dreißig Verleger dasselbe tun. Doch weil kein Unternehmen eine marktdominierende Position besitzt, besteht kein Anreiz, einen solchen Aufwand zu betreiben. Selbst wenn wir uns vorstellen, dass ein Verlag dennoch dieses Risiko auf sich nähme: Zu Marketingzwecken bräuchte er die Unterstützung des Autors. Für den Ruf des zweiten Verlages wäre es fatal, wenn der Autor öffentlich erklärte, keine Bezahlung erhalten zu haben.

Künstler sollten weder darum bangen, für ihre Arbeit nicht adäquat entlohnt zu werden, noch sollten sie fürchten, dass man sie ihnen "klaut". Betrachten wir ihre Position in einer Gesellschaft ohne Urheberrecht, kommt man auf zwei Gedanken. Dass die oben geschilderte Situation eintritt, ist aus folgenden Gründen unwahrscheinlich: zum einen, weil kein einzelnes Unternehmen mehr den Markt beherrschen wird. Zum anderen geht es um die Frage des guten Rufs. Wer ständig klaut, wird öffentlich gebrandmarkt.

Wir nähern uns einer Situation, in der wir nicht mehr ständig aus irgendwelchen Gründen die Justiz zu Hilfe rufen. Es lohnt sich einfach nicht, einen substantiellen Teil unserer Einkünfte an Anwälte zu zahlen. Dies bedeutet, dass die Praxis öffentlicher Demütigung und Rufschädigung - also ungeschriebenes Recht - an Bedeutung gewinnt. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Digitalisierung sowohl die Arbeitsweise von Künstlern, als auch ihre Kommunikation mit dem Publikum vollkommen verändern wird.

Bei solchen Marktverhältnissen ist kein Platz mehr für einen überholten Schutzpanzer, den man einst Urheberrecht nannte.

Der Autor ist Politikwissenschaftler und leitet an der Kunsthochschule Utrecht die Forschungsstelle für Kunst und Ökonomie.

Deutsch von Regine Leitenstern

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Quelle:
SZ vom 29.5.2007
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