"Eine Sekunde" im Kino:Kostbares Zelluloid

"Eine Sekunde" im Kino: Filmrestauration zu Maos Zeiten in China: Szene aus "Eine Sekunde" von Zhang Yimou.

Filmrestauration zu Maos Zeiten in China: Szene aus "Eine Sekunde" von Zhang Yimou.

(Foto: Mubi)

In "Eine Sekunde" feiert der Regisseur Zhang Yimou das alte chinesische Dorfkino - und muss doch, als gebranntes Kind der Kulturrevolution, weiterhin die Zensurbehörden fürchten.

Von Sofia Glasl

Wie verhedderte Eingeweide liegt die Filmrolle da. Aus ihrer runden Dose gerissen und völlig zerknüllt hat ein unaufmerksamer Bauer sie angebracht. Der Filmvorführer, den alle nur "Onkel Kino" nennen, lässt sie auf einem Laken aufbahren - der Film muss gerettet werden, und das ganze Dorf hilft mit. Die Rolle wird zu unendlichen Girlanden entwirrt, die Frauen lernen, das empfindliche Zelluloid zu säubern und mit leichten Fächerbewegungen wieder zu trocknen. Und so intensiv, wie der chinesische Starregisseur Zhang Yimou den zärtlichen Umgang mit dem Material zeigt, kann der Film "Eine Sekunde" nur eine Liebeserklärung an das analoge Kino sein.

Dieser Vorführer ist allerdings auch ein strammer Parteisoldat. "Eine Sekunde" spielt zur Zeit der Kulturrevolution, jenen zehn Jahren der chinesischen Geschichte zwischen 1966 und 1976, während derer Mao gewaltsam versuchte, das Land zur Spitze einer sozialistischen Weltrevolution zu machen. Gegner verhungerten in Arbeitslagern oder wurden durch Säuberungen beseitigt, die Gesellschaft verarmte. Sein Abendprogramm kann der Vorführer daher keinesfalls ohne die Wochenschau starten, die auf der beschädigten Rolle ist. Die Reinigung des Zelluloids ist nicht nur wörtlich zu verstehen. Onkel Kino muss sicherstellen, dass die Dorfbewohner über die neuesten Erfolge im Land informiert werden. Er überwacht auch, welche Propagandaschinken sie im Hauptprogramm sehen dürfen.

Neben Onkel Kino will auch das Waisenmädchen Liu an das Material kommen, um einen Lampenschirm daraus zu basteln und so eine Schuld zu begleichen. Für den aus einem Arbeitslager geflohenen Sträfling Zhang ist die Wochenschau die letzte Hoffnung, einen Blick auf seine entfremdete Tochter zu erhaschen. Ein Freund hat ihm berichtet, dass sie in genau dieser Ausgabe für eine kurze Sekunde zu sehen ist.

Waise und Sträfling zanken sich über große Teile des Films um diese Rolle. Dabei entstehen immer wieder heitere Slapstick-Momente zwischen den beiden, die jedoch auch ihre Schicksale verraten: Die Kulturrevolution hat ihre Familien zerrissen. Dass Onkel Kino die beiden jederzeit denunzieren kann, hängt unausgesprochen in der Luft, selbst als die beiden bei der Rettungsaktion helfen.

So wird "Eine Sekunde" zu einer Reflexion über den Wert von Film und Kino - als Instrument der Indoktrinierung und als kollektives Erlebnis, als Träger von Erinnerungen und der Wahrheit des Gefilmten, als Handwerkskunst im Herstellen und Vorführen. Das Bild vom gereinigten Film mag plakativ sein, es besticht jedoch gerade in seiner Einfachheit. Je länger Zhang zeigt, wie liebevoll Onkel Kino mit dem Zelluloid umgeht und daraus für die Dorfbevölkerung ein Gemeinschaftsprojekt macht, desto deutlicher stellt sich auch ein Magengrimmen ein.

Dazu passt das Drama, dass sich um die Weltpremiere von "Eine Sekunde" ereignete. Die Berlinale 2019 war bereits in vollem Gange, als der Wettbewerbsbeitrag von offizieller Stelle zurückgezogen wurde - aufgrund "technischer Schwierigkeiten". Dann sollte der Film 2020 ein chinesisches Festival eröffnen - und wurde kurzfristig nochmals zurückgezogen. Dass sich hier die chinesische Zensurbehörde eingeschaltet hatte, ist sehr wahrscheinlich. Einen Nachdreh später lief er letztlich 2021 auf den Filmfestspielen von San Sebastian, gekürzt um eine Minute. Was der Regisseur geändert hat? Das ist nicht zu erkennen, dafür ist er ein zu guter Handwerker und Diplomat.

Ein dramatischer Weg - vom Regimekritiker zum Propagandafilmer und zurück

Zhang Yimou selbst hat "Eine Sekunde" als seinen Liebesbrief an das Kino bezeichnet - und über weite Strecken ist er auch als solcher zu verstehen. Es werden Erinnerungen an Giuseppe Tornatores "Cinema Paradiso" wach, wenn Onkel Kino von hinten aus seiner Vorführkabine in den tobenden Kinosaal schaut. Für Zhang ist der Film jedoch auch eine Rückkehr zu seinen filmischen wie persönlichen Wurzeln - und womöglich auch ein Hadern mit seiner eigenen Rolle im chinesischen Kino. Seine Familie wurde während der Kulturrevolution geächtet, Zhangs frühe Filme handelten davon, wie beschwerlich das Leben einfacher Leute angesichts der Repressalien des kommunistischen Regimes war.

Bereits sein erster Film "Rotes Kornfeld" (1987) löste Kontroversen in China aus, gewann jedoch den Goldenen Bären in Berlin. "Leben" (1994) spielte ebenfalls während der Kulturrevolution und war deshalb im eigenen Land lange verboten. Zhang durfte nicht ausreisen, als der Film in Cannes den Großen Preis der Jury gewann. In den Jahren des bombastischen Blockbuster-Kinos mit Filmen wie "Hero" (2002) und "House of Flying Daggers" (2004) schien er sich mit dem Regime arrangiert zu haben. Dieses engagierte ihn letztlich auch 2008 als Regisseur für die Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele in Peking. Aber die "Zehn Jahre Chaos", wie die Kulturrevolution in China mittlerweile genannt wird, sind weiterhin nicht aufgearbeitet und sollen daher im besten Fall totgeschwiegen werden.

"Eine Sekunde" bohrt nun in genau dieser Wunde, und hinter all der Schlichtheit glaubt man Zhang selbst aus der Vorführkabine kichern zu hören, wenn er ausgerechnet dem linientreuen Onkel Kino mahnende Worte in den Mund legt: "Schauen wir einen Film, oder streiten wir uns? Was ist Euch wichtiger? Der Film lehrt uns, besser zu sein. Und daran solltet ihr arbeiten."

Eine Sekunde, China 2020 - Regie: Zhang Yimou. Buch: Zhang Yimou, Zou Jingzhi. Mit Zhang Yi, Fan Wei. Verleih: Mubi, 104 Minuten. Kinostart: 14. Juni 2022, ab 16. September auf Mubi.com.

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