Eine "Sachbuch-Fiktion":Mehrdimensional

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Stanisław Strasburger erzählt vom Libanon aus der Perspektive eines "Besessenen" aus Polen. Der Autor bekennt sich zur Subjektivität und den oft zwiespältigen Gefühlen in der Auseinandersetzung mit dem Unbekannten.

Von Stefan Weidner

Wer sind eigentlich die viel beschworenen neuen, polyglotten und europäisch gesinnten Polen, die das erklärte Feindbild der neuen polnischen Regierung zu sein scheinen? Einer ist sicher der 1975 geborene Stanisław Strasburger, Autor, Aktivist und Kulturmanager, der zwischen Warschau, Granada, Berlin und Beirut pendelt. Seine Bücher spielen mit den Genres und Sprachen, überschreiten die Grenzen von Journalismus und Fiktion, Literatur und Essay. Nach dem postmodernen Collage-Roman "Der Geschichtenhändler", den man sowohl auf Polnisch als auch auf Arabisch lesen kann und der ebenfalls in Beirut spielt, ist sein zweites Buch, die 'Sachbuch-Fiktion' (so der Untertitel) "Besessenheit. Libanon" nun in makelloser Übersetzung auf Deutsch zu lesen.

In einem libanesischen Restaurant in Warschau trifft der Erzähler die ukrainische Bauchtänzerin Ina. Der Kellner stammt aus dem libanesischen Gebirgsort Metn, genauso wie der berühmte Dichter Khalil Hawi (1919 - 1982), dessen Familie tief und tragisch in die libanesische Politik verwickelt war. Aus dieser scheinbar harmlosen Konstellation entwickelt sich in einer explosionsartigen Kette von Assoziationen, Erlebnissen und Recherchen ein Panorama der west-östlichen Verstrickungen, die sich in Libanon wie im Brennglas gebündelt finden. Die Sprunghaftigkeit der Darstellung gehört zum Prinzip, Zeiten und Orte geraten durcheinander, Biografien vermischen sich, die Erzählerstimme ist bald ein bloßes Tonbandgerät, dann wieder jemand, der über Freundschaften und Liebeleien zutiefst Teil der Geschichte ist. Man liest dieses Buch, wie man ein Kaleidoskop dreht.

Wer eine systematische Darstellung der jüngeren libanesischen Geschichte lesen will, liegt hier allerdings falsch. "Um den Geistern der Vergangenheit näherzukommen, vermeide ich Chronologie. Die Präsenz von Erinnerungen schert sich herzlich wenig um Entstehungsdaten." Der Wunsch zu erklären und zu verstehen, steht nur am Anfang des Buchs. Das Resultat besteht in Zuhören, Stehenlassen, Akzeptieren. Ryszard Kapuściński, der große polnische Reiseschriftsteller, schwebt als Vorbild zwar noch irgendwo im Hintergrund, seine eher klassische Herangehensweise wird aber radikal weiterentwickelt.

Die Nachbarschaftskonflikte mit Israel entstehen, so der Autor, aus dem Streben nach Kontrolle

Der multireligiöse und stets schwächelnde Staat Libanon steht dabei im Vergleich zum starken, auf Kontrolle bedachten und die Fremden zur Integration nötigenden Europa keineswegs nur negativ da. Ohne dass er zur Idealisierung taugt, lehrt er doch Gelassenheit. Strasburgers Darstellung macht klar, dass die Konflikte nicht im Neben- und Miteinander entstehen, sondern erst dann, wenn eine Gruppe versucht, die Kontrolle an sich zu reißen.

Das andere große Thema ist die Frage, wie man sich von außen überhaupt angemessen einer Gesellschaft wie der libanesischen annähern kann. Von Jean Genets Bericht über die Massaker in palästinensischen Flüchtlingslagern, über die aus dem Westen importierten Kuratoren der gerade wieder hippen Beiruter Kulturszene bis zu Botschaftsangehörigen reicht das Panoptikum der oft haarsträubenden Perspektiven auf das Land, die Strasburger subtil und ohne jede Selbstinszenierung herausarbeitet.

Der Autor, der sich zur Subjektivität und den oft zwiespältigen Gefühlen in der Auseinandersetzung mit dem Unbekannten bekennt, gibt unumwunden zu: "Oft empfinde ich Scham gegenüber den Menschen 'von dort'. Viele von ihnen wurden meine Freunde. Ich wünsche mir, dass ,Besessenheit. Libanon' auch zur Stimme eines mehrdimensionalen Gedächtnisses wird." Das ist ein hohes, ein hehres Ziel bei einem solch komplexen Gegenstand - Stanisław Strasburger ist ihm so nahe gekommen, wie es der Literatur eben möglich ist.

Stanisław Strasburger: Besessenheit. Libanon. Eine Sachbuch-Fiktion. Aus dem Polnischen von Simone Falk. Secession Verlag, Berlin 2016. 300 Seiten, 25 Euro. E-Book 19,99 Euro.

© SZ vom 01.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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