"Eine Frau" im KIno:Alles über meine Mutter

"Eine Frau" im KIno: Trägt der Strand noch Spuren glücklicher Kindheitstage? Szene aus Jeanine Meerapfels Film "Eine Frau".

Trägt der Strand noch Spuren glücklicher Kindheitstage? Szene aus Jeanine Meerapfels Film "Eine Frau".

(Foto: RealFiction)

Für ihre Dokumentation "Eine Frau" forscht die deutsch-argentinische Filmregisseurin Jeanine Meerapfel in der eigenen Familiengeschichte von Flucht und Emigration.

Von Philipp Stadelmaier

Es gibt eine Situation, die in Jeanine Meerapfels großartigem Essayfilm "Eine Frau" immer wiederkehrt. Die argentinisch-deutsche Filmemacherin will in einer Wohnung drehen, in der früher ihre Mutter gelebt hat, muss die heutigen Bewohner aber erst noch um Erlaubnis bitten. Die sind natürlich sofort einverstanden und lassen sich brav filmen, stehend oder auf dem Sofa, mit Kindern und Haustieren.

Und doch gibt es in den Bildern erst einmal ein Zögern, ein vorsichtiges Herantasten, einen Zweifel. Als könne Meerapfel ohnehin nur anderes filmen als das, worum es ihr eigentlich geht: die Spuren des Lebens ihrer Mutter. Und als sei sie nicht mal sicher, ob sie das überhaupt darf: einen Film machen über diese Frau, die ihr immer seltsam fremd geblieben ist.

Marie-Luise Chatelaine, genannt "Malou", die zu Beginn des 20. Jahrhunderts im französischen Burgund zur Welt kam, hatte das, was man ein bewegtes Leben nennen kann. Das Mädchen wächst im Waisenhaus auf und später bei einer lieblosen Tante, bis sie als junge Frau die Provinz verlässt, nach Straßburg geht und einen wohlhabenden jüdischen Tabakfabrikanten aus Karlsruhe kennen lernt. Um ihn zu heiraten, konvertiert Marie-Luise zum Judentum und wird Frau Meerapfel.

Später flieht die Familie vor den Nazis, lässt sich erst in Amsterdam nieder und dann in Buenos Aires, wo 1943 Jeanine zur Welt kommt. Für einige Zeit führt die Frau, die auf alten Fotos eine ätherische Schönheit ausstrahlt, ein glückliches und mondänes Leben an der Seite eines reichen Mannes. Doch dann verstößt er sie, und Marie-Luise rutscht ab in die Armut. Ihr Lebensende wird bestimmt von zu viel Wermut, zu vielen Zigaretten und zu viel Schimmel an den Wänden.

Schon in ihrem ersten Spielfilm von 1980, "Malou", hatte sich Meerapfel mit dem Leben ihrer Mutter beschäftigt, damals jedoch in Form einer Fiktion. Nun geht es darum, sich die persönlichen Erinnerungen und materiellen Reste aus dem Leben der Mutter möglichst direkt anzuschauen. Die Fotografien, Dokumente und Briefe, Gesprächsprotokolle und Acht-Millimeter-Filme werden dabei kommentiert von Meerapfels Stimme aus dem Off.

Wobei ihr Sprechrhythmus der Erzählung eine lyrische Note verleiht. Die Pausen, die sie zwischen den Worten einstreut, erinnern an Zeilensprünge in einem Gedicht. Geht es um das Silberbesteck der Mutter und die aus diesem verschwundenen Löffel, betont Meerapfel, dass diese fortan nur noch in ihrem Gedächtnis existieren: "als eine Lücke / etwas / das fehlt".

Unterlegt ist der Film mit einem sanften, improvisiert wirkenden Score des Jazzmusikers und Klarinettisten Floros Floridis, eine wunderbar offene und suchende Bewegung, die von den Bildern übernommen und fortgeführt wird. Die Archivmaterialien sind nur ein Teil des filmischen Ordnungsversuchs, der sich hauptsächlich in der Gegenwart abspielt. Meerapfel fährt die Stationen des Lebens der Mutter ab: Chalon-sur-Sâone, Straßburg, Untergrombach bei Karlsruhe, Amsterdam, Buenos Aires.

Was man noch filmen kann, gibt nichts mehr über die Mutter preis

Sie filmt die Kühe im Burgund und fragt sich, ob dies die ersten Bilder waren, die die Mutter als Kind einst gesehen hat. Sie filmt die Gebäude und die Menschen auf den Straßen und muss sich eingestehen, dass sie nichts über ihre Mutter preisgeben. Sie filmt die Schwalben am blauen Himmel und muss feststellen, dass die Schwalben zu schnell für die Kamera sind und auch dieses Bild nichts sagt.

Später antworten darauf die Möwen, die der Vater einst mit seiner Acht-Millimeter-Kamera in Amsterdam aufnahm. Auch hier entzieht sich die flinke Bewegung der Vögel dem Bildfeld. Gegenwart und Vergangenheit verbinden sich zu einem lebendigen Elan, einem Flattern, das nicht eingefangen werden kann.

Diese Kurzschlüsse gibt es immer wieder. Die französische Sâone scheint den argentinischen Río de la Plata vorwegzunehmen. Und erinnert das Schicksal der aus der Familie verstoßenen Ehefrau nicht auch an jenes einer in Ungnade gefallenen Konkubine von Henri IV? Dieses spielerische Assoziieren, dieser Sinn für die Schönheit dessen, was nur in der eigenen Wahrnehmung aufscheint, teilt Meerapfel mit der Nouvelle-Vague-Ikone Agnès Varda. Wie Varda platziert auch Meerapfel Fotografien aus dem Familienarchiv ganz physisch in der Landschaft, auf Treppen, Zäunen und Hauswänden - sogar am Strand.

"Öffnet man die Leute, findet man Landschaften", hat Varda mal gesagt. Öffnet man Marie Louise Chatelaine, findet man die chaotische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Man stößt auf die Shoah, Flucht und Emigration, auf ein Exil, das nicht für alle dasselbe bedeutet, auf Evita Peron, die "Heilige der Armen", und die argentinische Militärdiktatur. Vor allem stößt man auf die Erkenntnis, dass man die Vergangenheit nicht filmen kann - nur die Gegenwart. Wo einst das Krankenhaus stand, in dem die Mutter starb, ist heute ein Parkplatz. Filmt man eben den Parkplatz.

Eine Frau, Deutschland 2021. - Regie und Buch: Jeanine Meerapfel. Kamera: Johann Feindt. Schnitt: Vasso Floridi. Musik: Floros Floridis. Realfiction, 104 Min. Kinostart: 01. 12. 2022.

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