Ein Plädoyer für Pessimismus:Täglich eine Kröte

Wir haben uns zu lange eingeredet, wir hätten die Kontrolle über unser Schicksal. Es ist an der Zeit zu erkennen, wie kontraproduktiv Optimismus ist. Die Gründe.

Alain de Botton

Seit geraumer Zeit ist klar, dass wir vor allem eines zu fürchten haben, und das ist die Hoffnung. Jeder Versuch, darauf zu vertrauen, dass wir das Schlimmste schon hinter uns und uns nicht mehr zu ängstigen haben, scheint nur dazu verurteilt, uns in noch tiefere Enttäuschung zu stürzen. Wir sind nicht nur unglücklich, sondern - weil wir glauben, Gelassenheit und Glück seien die Norm - auch unglücklich, dass wir unglücklich sind.

Hollywood Profile: Woody Allen

Ein Mann sollte jeden Morgen eine Kröte schlucken, um sichergehen zu können, dass ihm an dem Tag, der vor ihm liegt, nichts Widerlicheres begegnet: Woody Allen (Bild), einer der erfolgreichsten Pessimisten unserer Zeit, scheint dieses Prinzip verinnerlicht zu haben.

(Foto: obs)

Es ist an der Zeit zu erkennen, wie merkwürdig und kontraproduktiv der Optimismus ist, mit dem wir aufgewachsen sind. In den letzten zweihundert Jahren wurde die westliche Welt trotz gelegentlicher Erschütterungen von einem Fortschrittsglauben beherrscht, der auf ihren außergewöhnlichen wissenschaftlichen und unternehmerischen Leistungen beruht. Aber aus einer breiteren historischen Perspektive ist dieser Optimismus eine heftige Anomalie. Den größten Teil ihrer Existenz hindurch hat die Menschheit einen eigenartigen Trost daraus gezogen, dass sie stets mit dem Schlimmsten rechnete.

Im Westen hat man die Lektionen in Sachen Pessimismus aus zwei Quellen bezogen: Aus der römischen Philosophie des Stoizismus und aus dem Christentum. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir uns einige ihrer Lehren in Erinnerung rufen; nicht um unser Elend noch zu vergrößern, sondern um unser verletztes Überraschtsein und unseren Kummer zu lindern.

Was die erste dieser beiden Quellen angeht, müsste Seneca der Autor der Stunde sein. Für Seneca, der in einer Zeit ständiger finanzieller und politischer Umwälzungen lebte (Nero saß auf dem Kaiserthron), war die Philosophie eine Disziplin, die uns helfen sollte, vor dem Hintergrund ständiger Gefahr unsere Ruhe zu bewahren. Sein Trost war von steifster, düsterster Art: "Ihr sagt ,ich hätte nicht gedacht, dass das geschehen würde'. Denkt ihr denn, es gäbe irgendetwas, das nicht geschehen wird, obschon ihr doch wisst, dass es möglich ist, dass es geschieht; obschon ihr doch seht, dass es bereits geschah?" Seneca versucht, das Ungerechtigkeitsgefühl, das seine Leser empfinden, zu besänftigen, indem er sie - im Jahr 62 n. Chr. - daran erinnert, dass Naturkatastrophen und vom Menschen verursachte Unglücke immer ein Merkmal unseres Lebens sein werden, wie kultiviert und sicher wir uns auch fühlen.

Lesen Sie auf Seite 2, warum wir zu einsamen Gefühlen der Scham und des Verfolgtwerdens verurteilt sind.

Kein Trost für unerfüllte Ambitionen

Wenn wir uns mit dem Risiko eines plötzlichen Schicksalsschlags nicht weiter aufhalten und einen Preis für unsere Unschuld zahlen, dann weil die Wirklichkeit zwei auf grausame Weise verwirrende Eigenschaften hat: Kontinuität und Verlässlichkeit durch die Zeiten hindurch einerseits, und unerwartete Katastrophen andererseits.

Warnschild zur Krötenwanderung

"Ein Mann sollte jeden Morgen eine Kröte schlucken, um sichergehen zu können, dass ihm an dem Tag, der vor ihm liegt, nichts Widerlicheres begegnet."

(Foto: DPA-SZ)

Die Ideologie der Sehnsucht verweigert Trost

Wir sind hin- und hergerissen zwischen der plausiblen Aufforderung, davon auszugehen, dass morgen weitgehend wie heute sein wird, und der Möglichkeit, dass uns ein fürchterliches Ereignis zustößt, nach dem nichts je wieder so sein wird wie zuvor. Weil die Anreize so stark sind, das letztere Szenario zu verdrängen, forderte Seneca, dass wir uns daran erinnern sollten, dass unser Schicksal auf ewig in den Händen der Schicksalsgöttin liege. Diese Göttin kann eben noch ihre Gaben ausschütten und direkt danach zusehen, wie ein fünfzig Jahre altes Unternehmen sich in eine wertlose Geldanlage verwandelt.

Weil uns am meisten das schadet, womit wir nicht rechnen (Aber: "Es gibt nichts, was Fortuna nicht zu tun wagte."), müssen wir, sagt Seneca, stets im Blick haben, dass die obszönsten Ereignisse möglich sind. Niemand sollte eine Investition eingehen, eine Firma starten, in einem Aufsichtsrat sitzen oder einer Bank sein Geld überlassen, ohne für die dunkelsten Möglichkeiten ein Bewusstsein zu haben, von dem sich Seneca gewünscht hätte, dass es weder zu grausig noch unnötig dramatisch ausfällt. In Anbetracht unserer finanziellen Fähigkeiten haben wir uns zu lange eingeredet, wir hätten die Kontrolle über unser Schicksal. Wir haben den Mathematikgenies vertraut, die uns ein "Risikomanagement" versprachen, und den Derivaten, die so komplex waren, dass wir nicht wagten, in sie hineinzuschauen. Nichts könnte weiter von einer stoischen Geisteshaltung entfernt sein als solches Vertrauen.

Wir müssen, betont Seneca, unseren Sinn für das erweitern, was zu jedem beliebigen Zeitpunkt in unserem Leben schiefgehen könnte: "Nichts sollte für uns unerwartet sein. Unsere Gedanken sollten wir vorausschicken, um auf alle Probleme zu stoßen, und wir sollten nicht über das nachdenken, was für gewöhnlich geschieht, sondern über das, was geschehen kann. Was ist der Mensch? Ein Gefäß, das die leichteste Erschütterung, der leichteste Stoß zerbrechen kann."

Das Christentum hat die Botschaft der Stoiker nur weiter untermauert. Es hob hervor, wie leicht es allen Menschen fällt, sich Vollkommenheit auszumalen, aber dass es ein Problem ist - ja sogar eine Sünde -, anzunehmen, dass solche Vollkommenheit auf Erden je vorkommen könne. Nichts Menschliches kann je frei von Makel sein. Es kann kein Ende der Zyklen aus Booms und Krisen geben. Wir neigten lange dazu, solche trüben Botschaften beiseite zu wischen. Die Philosophie des modernen Bürgertums basiert ihre Hoffnungen auf zwei große angebliche Zutaten des Glücks: Liebe und Arbeit. Aber mit der hochherzigen Zusicherung, dass jeder von uns in ihnen Befriedigung finden werde, ist eine große, gedankenlose Grausamkeit verbunden.

Nicht, dass diese beiden Ideen unfähig wären, Erfüllung zu vermitteln; es ist bloß so, dass dies fast nie allzu lange hält. Und wenn eine Ausnahme fälschlich als Regel aufgefasst wird, drücken uns unsere Missgeschicke nieder, als seien sie persönliche Flüche, statt dass sie uns als quasi-unvermeidliche Aspekte des Lebens erscheinen. Indem die bürgerliche Ideologie der Sehnsucht und der Katastrophe den natürlichen Platz verwehrt, der für sie im menschlichen Los reserviert ist, verweigert sie uns die Möglichkeit eines kollektiven Trosts für unsere brüchigen Ehen, unsere unerfüllten Ambitionen, und unsere geplatzten Portfolios. Sie verurteilt uns stattdessen zu einsamen Gefühlen der Scham und des Verfolgtwerdens, weil wir so hartnäckig darin versagt haben, mehr aus uns zu machen.

Natürlich sollten wir uns eher der großen pessimistischen Stimmen der Geschichte erinnern. Zwei Zitate schätze ich in solchen Zeiten sehr. Das eine stammt von Seneca: "Welche Notwendigkeit gibt es, über Teile des Lebens zu weinen? Als Ganzes verlangt es nach Tränen." Das andere stammt von dem französischen Moralisten Chamfort: "Ein Mann sollte jeden Morgen eine Kröte schlucken, um sichergehen zu können, dass ihm an dem Tag, der vor ihm liegt, nichts Widerlicheres begegnet." Offensichtlich gäbe es ein großartiges Marktpotential für Hersteller von Kröten-Müsli.

Der Autor ist Essayist und lebt in London. Auf Deutsch erschienen von ihm unter anderen "Glück und Architektur" und "Airport: Eine Woche in Heathrow". Deutsch von Niklas Hofmann

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