Ein Land in Angst:Die Hinrichtung des Filmemachers

Die Niederlande unter Schock: Die Ermordung des Filmemachers und Publizisten Theo van Gogh trifft eine offene Gesellschaft, die einmal stolz auf ihre Meinungsfreiheit war.

SIGGI WEIDEMANN

Es wirkt auf die Netzhaut wie das Remake eines miserablen Theaterstücks: der Tote auf dem Pflaster, Blaulichter, die in weiße Schutzanzüge gehüllten Kriminalisten und dann all die Kommentare und Betroffenheitserklärungen der Politiker aus Den Haag, die wir fast wortgleich schon einmal gehört hatten -- bei der Exekution des Politikers Pim Fortuyn vor exakt 911 Tagen. Der gezielte Mord an dem Filmemacher, Kolumnisten und Journalisten Theo van Gogh schien exakt dem selben Drehbuch zu folgen wie die Tötung des charismatischen Populisten Fortuyn vor den Parlamentswahlen im Mai 2002.

Ein Land in Angst: Van Gogh nannte sich einen Dorfnarren. Vielleicht glaubte er deshalb, die islamistischen Fundamentalisten würden ihm nichts antun.

Van Gogh nannte sich einen Dorfnarren. Vielleicht glaubte er deshalb, die islamistischen Fundamentalisten würden ihm nichts antun.

(Foto: Foto: dpa)

Mit einem Unterschied. Dieser Mord am schwarzen Dienstag war eine Hinrichtung, die rituell durchgeführt wurde. Der 26-jährige marokkanische Amsterdamer feuerte etwa 20 Schüsse ab, hackte dann mit einem Messer auf sein Opfer ein. Ein kleines Messer mit dem Bekennerschreiben, auf dem Verse aus dem Koran stehen sollen, hat er in seinen Bauch gestochen. Anschließend hat er den Toten mehrfach mit Füßen getreten.

Dieser Mord an dem Mann, dessen Handelsmarke die Provokation war, hat die Niederlande noch mehr erschüttert als der politische Mord an Pim Fortuyn, denn es traf einen Publizisten, der wegen seiner scharfen Kritik am fundamentalistischen Islam sterben musste. Es traf einen Künstler, dessen großes Vorbild der deutsche Filmemacher Rainer Werner Fassbinder gewesen war. Es traf eine offene Gesellschaft, die stolz auf ihre Meinungsfreiheit ist. Konnte man den Mord an dem politisch unkorrekten Fortuyn, der Heuchelei und Vetternwirtschaft in der Politik angegriffen hatte, noch als die Tat eines Verrückten abtun, so ist dies bei der Tötung des Filmemachers nicht mehr möglich.

Die Hinrichtung des Filmemachers

Waren die alten Selbstgewissheiten nach dem Fortuyn-Mord bereits erschüttert, so haben die Menschen jetzt Angst. Angst davor, dass sie nicht mehr sagen dürfen, was sie denken. Und das in einem Land, das sich seine Traditionen der Toleranz immer zugute gehalten hat. Der mehrfach ausgezeichnete Regisseur van Gogh, Urgroßneffe des Malers Vincent van Gogh, war kein bequemer Typ. Er war ein zynischer, aber auch humorvoller Kulturschaffender, ein gesuchter Gesprächspartner von Politikern wie etwa Finanzminister Gerrit Zalm oder Integrationsministerin Ria Verdonk. Mit seinen Filmen, Kolumnen und Artikeln hatte er bewusst die Konfrontation gesucht.

Van Gogh konnte sehr gut Vorurteile durchbrechen und war gegen jede Art von Fundamentalismus. Er agierte gegen Juden, Calvinisten, Katholiken und Muslime gleichermaßen provokativ. Ein juristischer Streit mit dem erfolgreichen Romanautor Leon de Winter zog sich neun Jahre hin. Van Gogh hatte de Winter beschuldigt, den Verkauf seiner Bücher durch die Instrumentalisierung seiner jüdischen Identität und der Shoa zu fördern. Auch prangerte er den Missbrauch des Namens Anne Frank für internationale Interessen an.

Vor allem aber hatte van Gogh immer und immer wieder den politisch korrekten Umgang der Arbeiterpartei, die er mit der holländischen Nazi-Partei verglichen hatte, mit dem Islam angeprangert. Die Sozialdemokraten waren es seiner Meinung nach, die ein illusionäres Modell der multikulturellen Gesellschaft propagierten, die Zwischenfälle zwischen Holländern und Immigranten immer wieder abwiegelten und bagatellisierten. Toleranz, so van Gogh, könne man nur innerhalb bestimmter Grenzen ausüben: Wenn ich jemanden schon einlade, so erwarte ich als Gastgeber auch, dass der Gast die Hausregeln akzeptiert und mich nicht bestiehlt oder zusammenschlägt.

Die Öffentlichkeit sah nach dem Mord sofort einen Zusammenhang mit van Goghs islamkritischen Film "Submission", den er gemeinsam mit der rechtsliberalen somalischen Parlamentsabgeordneten Ayaan Hirsi Ali gedreht hatte und der vor zwei Monaten im Fernsehen gezeigt wurde. In dem Film ging es um die Unterdrückung der Frauen in der islamischen Gesellschaft. Auf einen nackten Frauenkörper waren Koranverse geschrieben. Das wurde von Muslimen als beleidigend erfahren. Es gab nach der Ausstrahlung des Films Todesdrohungen gegen die beiden Autoren.

Der gewaltsame Tod van Goghs hat das Interesse an ihm und seiner Arbeit sprunghaft gesteigert. Schon wird die Demonstration für Meinungsfreiheit vor dem königlichen Palast in Amsterdam, an der am Abend des Mordtages 20 000 Amsterdamer teilnahmen, mit den Kundgebungen nach dem Attentat auf Fortuyn verglichen. "Lasst uns vorsichtig sein, denn sonst sind wir die nächsten Opfer", "Kritik am Islam kann tödlich sein", "Islamiten Parasiten" oder "Ich will mein altes Holland wiederhaben" waren Parolen während der Demonstration.

In der Menschenmasse befand sich auch der Schriftsteller Harry Mulisch. "Was hier passiert, das ist Geschichte. Dieser Mord wird unser EU-Europa stärker verändern, als wir ahnen", sagt der Bestsellerautor im Gespräch mit SZ. "Ich habe ja noch die Jahre während des Zweiten Weltkrieges miterlebt, als man für seine Meinung gehängt werden konnte. Aber für diese junge Generation ist das eine gänzlich neue Erfahrung, dass jemand hingerichtet wird, nur weil er sagte, was er dachte. Unser kleines, friedliches und ruhiges Holland, das ist Vergangenheit. Das Land ist roh, aggressiv und ungemütlich geworden. Ich kann verstehen, dass viele Menschen abhauen wollen. "Mulisch, der selber im Herzen von Amsterdam wohnt, befürchtet eine Eskalation der Gewalt. "Die Politiker, die alles schönreden, haben jetzt Angst. Es wird gefährlich, denn die Ur-Holländer werden zurückschlagen und irgendwann wird die erste Moschee brennen. Andererseits: Der Täter war ein Marokkaner, und es sind bei dieser Kundgebung viele Marokkaner dabei. Das ist ein Zeichen der Hoffnung." Muslimische Organisationen befürchten, die Integrationsdebatte werde sich jetzt verschärfen.

Das sonst frei zugängliche Regierungsviertel ist seit dem Mord hermetisch abgeschlossen. Politiker werden extra bewacht, mehrere bekannte Kolumnisten und Schriftsteller haben im Radio ihren Entschluss bekannt gegeben, nach Deutschland auszuwandern. Bevorzugtes Ziel ist Berlin. Denn die Berliner hält man für zuvorkommend, die Wohnungen seien dort groß, die Lebenshaltungskosten niedrig, und außerdem hätten die Berliner ja ihre historische Lektion gelernt. Auch Theo van Gogh hatte davon gesprochen, das stickige und kleinbürgerliche Holland verlassen zu wollen.

Der Ort Amsterdam: im 17. Jahrhundert groß und mächtig geworden, weil hier Glaubensflüchtlinge, die ihr Geld und Wissen mitgebracht hatten, heimisch werden konnten. Die Stadt, die sich immer als ein Platz pragmatischer Toleranz betrachtet hat, in der Meinungsfreiheit herrschte, in der Descartes nachdachte, Klaus Mann seinen "Mephisto" schrieb, das Frankfurter Mädchen Anne Frank ihr berühmtes Tagebuch und Max Beckmann malte, die Bilder dieses Amsterdam hatte van Gogh immer wieder beschworen.

Das Phänomen Pim Fortuyn, eine Form des Populismus, die bis dahin weder Holland noch Europa insgesamt erlebt hatte, war Inhalt des letzten Films von Theo van Gogh, dessen Premiere auf den 12. Dezember angesetzt ist. In seinem TV-Programm "Ein gutes Gespräch" hatte van Gogh den "göttlichen Kahlen" 1993 auf sehr persönliche und humorvolle Art interviewt. Später wurden die beiden Provokateure Freunde. Van Gogh wurde auf dem Weg in sein Studio ermordet, in einem Stadtteil, in dem viele Kulturen und Religionen -- überwiegend friedlich -- zusammenleben.

In der Diskussion über den islamischen Fundamentalismus, den als die größte Bedrohung für die westliche Gesellschaft ansah, spielte van Gogh eine prominente Rolle. Er hat dabei bewusst die Grenze dessen gesucht und überschritten, was schicklich war. In seiner letzten Kolumne, im kostenlosen Tabloid "Metro", das von vielen Jugendlichen und Studenten gelesen wird, hatte van Gogh den Bürgermeister der Stadt angegriffen und als "Schirmherrn der Ziegenficker" beleidigt.

Die Bürger von Amsterdam sind an Liquidationen im Milieu der Drogenkriminalität gewöhnt. Aber nun ist eine bedrohlichere Stufe der Gewalt erreicht. Van Gogh nannte sich einen Dorfnarren. Vielleicht glaubte er deshalb, die islamistischen Fundamentalisten würden ihm nichts antun. Sie werden sich hüten mich umzubringen, so seine Überzeugung, denn dann werden alle Finger in ihre Richtung weisen. Nun, nach seiner Ermordung, wird er für seinen Mut allgemein gelobt. Der "Vorfechter für das freie Wort", so Regierungschef Balkenende, musste wegen seiner scharfen Zunge sterben.

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