Ein Jahr große Koalition:Wir können es nicht mehr hören!

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Hier ist der Report über die Berliner Zooschweine und andere große Tiere: Eine Bilanz nach einem Jahr großkoalitionären Dramas.

Marcus Jauer

Vor einem Jahr standen in Berlin ein paar Menschen vor einer großen, dunklen Holztür und warteten. Die Tür gehört zu einem alten Gebäude, das dem Reichstag gegenüber liegt, und in dem sich die Parlamentarische Gesellschaft befindet. Das ist eine Art Club, dessen Name bedeuten soll, dass die Politiker darin unter sich sein können - aus genau dem Grund hatten sich Gerhard Schröder, Franz Müntefering, Angela Merkel und Edmund Stoiber dort getroffen.

Heißa, manchmal macht Regieren mächtig Spaß: Bundeskanzlerin Angela Merkel bei Warnemuende auf der Fregatte Sachsen neben dem Inspekteur der Marine Wolfgang Nolting. (Foto: Foto: ddp)

Die Politiker hatten einen Wahlkampf geführt, die Journalisten hatten Artikel geschrieben, und die Wähler gewählt. Jeder hatte gewusst, dass die Probleme des Landes groß sind, jeder hatte Erwartungen gehabt, jeder hatte seine Arbeit getan. Die Demokratie hatte funktioniert, und nun gab es ein Ergebnis.

Leider passte es weder zu dem Wahlkampf, noch zu den Artikeln, noch zu einer der Koalitionen, die sich die Politiker gewünscht hatten, aber es war da, und etwas musste jetzt passieren. Die Menschen, die sich vor der Holztür versammelt hatten, waren Journalisten, Touristen und Berliner. Eine pluralistische Gesellschaft, die mit jeder Stunde größer wurde. Alle warteten darauf, dass etwas passierte. Dann ging die Tür auf.

Kanzleramt, ein Jahr später. Drinnen sitzen Angela Merkel, die doch Bundeskanzlerin geworden ist, Kurt Beck, der doch noch SPD-Vorsitzender geworden ist, Edmund Stoiber, der doch nicht Superminister geworden ist, und verhandeln über die Gesundheitsreform. Es soll wirklich die letzte Runde sein. Draußen vor dem Tor stehen Kameras.

Peter Hahne richtet sich die Krawatte, zieht die Hose über die Hüfte und macht seinen Aufsager für die Nachrichten.

Er sagt, die Erwartungen seien riesig, aber die zu bohrenden Bretter dick.

Er sagt, was jeder sagen könnte, auch die Reporter, die neben ihm stehen, erzählen nichts anderes, aber das ist ganz egal.

Es gibt Nachrichten, in diesen Nachrichten gibt es Aufsager, also wird aufgesagt. Nichts ist passiert, aber alles muss weitergehen. Im Moment zählt, dass im Kanzleramt Licht brennt. Die Politik arbeitet.

Man läuft zwischen Regierungsbauten herum, schaut durch Fenster in Sitzungssäle, Büros, Regale, Treppenhäuser, überall Licht, aber nirgends ein Mensch. Man kommt sich vor wie der Überlebende einer Katastrophe, da entdeckt man in den oberen Etagen des Kanzleramtes Köpfe, sie bewegen sich hin und her wie nach einer Melodie. Es sieht aus, als ob sie schunkeln, aber das kann nicht sein.

Nach vier Stunden dürfen die Journalisten ins Amt. Im oberen Foyer ist die Stellwand mit dem Bundesadler aufgebaut, davor drei Stehpulte. Es gibt bitteren Kaffee und Brötchen mit Frischhaltefolie. Es ist elf, es wird dauern.

Die Journalisten stehen in Gruppen zusammen und erzählen, dass sie zur letzten Gesundheitsrunde bis morgens sechs gewartet haben, oder sie reden davon, welche Geschichte man eigentlich unbedingt mal schreiben müsse. Etwas abseits, auf dem Boden, sitzen drei, die spielen "Stadt, Land, Fluss, Droge, Politiker, Todesursache."

Man setzt sich und wartet, man ist von außen aufgeregt und merkt von innen, wie man müde wird. Irgendwann nickt man ein, aber schreckt sofort hoch, weil man fürchtet, dass man gefilmt wird und am Morgen im Frühstücksfernsehen ist. Dann nickt man wieder ein.

Es ist zwei Uhr vierzehn, als Merkel, Stoiber und Beck kommen. Sie geben jeder eine Erklärung ab, sie beantworten drei Fragen und gehen wieder.

Das war der Durchbruch.

Man hat kein Wort verstanden. Anderen Journalisten geht es ähnlich, darum lassen sie sich vom Kanzleramtsminister alles noch einmal erklären. Am nächsten Morgen stellt sich heraus, dass er es auch nicht ganz verstanden hatte.

Ronald Pofalla ist der Generalsekretär der CDU. Er ist einer der Männer, die unter Angela Merkel Karriere gemacht haben. Davor saß er vierzehn Jahre im Bundestag, ohne dass er auffiel. Vor einem Jahr machte ihn Merkel zu ihrem Sekretär. Es heißt, sie schätze seine Loyalität. Er ist jetzt für das Profil seiner Partei zuständig. Man müsste sich an einen seiner Sätze erinnern, aber man erinnert sich nur an seine Brille. Eigentlich ist sie für das Profil der Partei zuständig. Sie ist weder rund noch eckig. Man würde gern wissen, wie Pofalla ohne sie aussieht, aber man hat Angst, er nimmt sie ab, und dahinter ist kein Gesicht.

Wenn man von außen auf die große Koalition schaut, sieht man Lager, die Jahrzehnte gegeneinander gearbeitet haben und jetzt zusammenarbeiten müssen. Ein gemeinsames Leitbild haben sie nicht. Man sieht Politiker, die nur antreten wollen, nicht auftreten wie ihre Vorgänger. Eine Inszenierung wollen sie nicht. Man sieht Themen, in denen sich nur Experten auskennen. Es ist nicht leicht, sich für diese große Koalition zu interessieren. Man hat aber keine Wahl, denn die würde auch nichts ändern.

Currywurst, Leberkäs, Döner

Am Tag der Deutschen Einheit waren auf der Festmeile in Berlin viele Stände aufgebaut. Es gab Currywurst, Bratwurst, Bulette, Leberkäse, Gyros, Döner, Chili con Carne, Gulasch, Nackensteak, Rippchen, Ente, Tintenfischringe, Fischbrötchen, Schafskäse, Senfgurken, Erbsensuppe, Sauerscharfsuppe, Frühlingsrollen, Chinanudeln, Dampfnudeln, Thüringer Klöße, Bretzeln, Crêpes, Waffeln, Kartoffelpuffer, Knoblauchbaguette, Muffins, Donuts und Softeis.

Man fragt sich, was eigentlich Gerhard Schröder macht. Er hat ja noch ein Büro im Bundestag, da ruft man an und fragt, welche Termine er in der nächsten Zeit wahrnimmt. Die Sekretärin sagt, das könne nur sein Pressesprecher sagen. Zwei Tage lang wartet man vergeblich. Dann ruft man wieder an.

,,Das Büro des Altkanzlers?'' fragt die Vermittlung des Bundestages. Dann verbindet sie, es klingelt einmal, und es meldet sich jemand mit dunkler Stimme.

,,Ja?''

,,Bin ich jetzt im Büro von Gerhard Schröder herausgekommen?''

,,Was wollen Sie denn?''

Die Stimme - er ist selbst am Apparat. Man könnte jetzt alles fragen. Stattdessen hört man sich sagen, was man ursprünglich fragen wollte: Welche Termine er in der nächsten Zeit hat.

,,Das weiß ich nicht.''

,,Und jetzt?''

,,Da müssen Sie irgendwann mal anrufen. Die sind jetzt alle zu Tisch.''

Michael Kappeler hatte Angst vor dem Tag, an dem Angela Merkel Kanzlerin wird. Kappeler ist einer der Besten unter den Berliner Fotografen. Er arbeitet in der Nachrichtenagentur ddp, und oft gelingen ihm Bilder, die über den Tag hinausreichen. Angela Merkel lässt sich aber nicht gern fotografieren.

Bevor sie Kanzlerin wurde, hatte Kappeler das Gefühl, sie versuche zu kontrollieren, wie sie fotografiert wird. Wenn sie ging, liefen Mitarbeiter hinter ihr, und es gab kein Bild, das sie allein zeigt, wie sie abgeht. Wenn sie zur Sitzung des CDU-Präsidiums kam, wurden die Fotografen erst hineingelassen, wenn sie saß, und so gab es kein Bild, das sie zwischen diesen Männern zeigt, die größer sind als sie.

Als sie dann Kanzlerin wurde, dachte Kappeler, sie habe nun noch mehr Möglichkeiten, zu kontrollieren, wie man sie zeigt. Das war falsch. Sie hatte weniger.

Wenn sie bei einem Staatsbesuch über den roten Teppich ging, konnte sich kein Mitarbeiter hinter sie stellen. Wenn sie ins Kabinett kam, waren die Fotografen schon drin, weil das immer so war. Es gab Rituale, die sich der Kontrolle entzogen, und so hörte die Kontrolle auf.

Angela Merkel macht noch heute nicht den Eindruck, als werde sie gern fotografiert, aber auch nicht mehr den, als wolle sie es vermeiden. Sie setzt Gesten ein, lächelt, sieht aus, als wisse sie, dass ihr ein Bild auch nützen kann. Sie wirkt freier. ,,Wie schnell sie das gelernt hat, das begeistert mich'', sagt Michael Kappeler.

Sie hat zwar nicht Gerhard Schröders Fähigkeit, verschiedene Gesichter aufzusetzen, sie hat nur eins. Doch das rutscht ihr kaum noch weg. Es ist allerdings oft so stark geschminkt, dass man ihre Sommersprossen nicht mehr sieht.

Zum Tag der Deutschen Einheit hält Angela Merkel eine Rede in Kiel. Die Bild-Zeitung schreibt später, dies sei ihre persönlichste gewesen, ,,sehr privat und voller Gefühl''. Merkel erzählt, wie sie im Herbst 1989, die Mauer ist gefallen, raus will aus ihrem Beruf als Wissenschaftlerin, rein ins Neue, ins Ungewisse.

Zu jener Zeit habe ihr ein Freund ein Buch mit einer Widmung geschenkt. Er hatte mit ihr in der Akademie der Wissenschaften gearbeitet, bis ihn die Ödnis dort müde machte und er kündigte. Er heißt Michael Schindhelm und die Widmung, die er ihr in das Buch geschrieben habe, lautete: ,,Gehe ins Offene!''

Sie sei ,,wie die Überschrift über all meine Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte aus dieser Zeit'', sagte sie in Kiel.

Das Leben, ein Roman

Michael Schindhelm ist heute Chef der Opernstiftung in Berlin. Er hat vor einigen Jahren einen autobiografischen Roman geschrieben, ,,Roberts Reise''. Darin bekommt sein Held, als er die Akademie verlässt, ein Buch geschenkt, in welchem steht: ,,Gehe ins Offene!''. Das sei seine Erfindung gewesen, erzählte er, als man vor einiger Zeit einmal mit ihm sprach.

Als man von Merkels Rede in Kiel liest, wundert man sich, wie sie eine Szene aus einem Roman erlebt haben kann. Man ist sich nicht mehr sicher, ob man sich an das Gespräch mit Schindhelm richtig erinnert, ruft noch mal an, aber man erinnert sich richtig.

,,Sie wollen die Bundeskanzlerin doch nicht der Lüge überführen?'', fragt er.

Die Redaktion sitzt in einem der feinen Gebäude Unter den Linden. Sie belegt eine ganze Etage, in der man sich fühlt wie in einer Praxis für Krankheiten, die nicht jeder kriegt. Alles ist elegant, hell, großzügig. Es gibt viel Platz an den langen, weißen Tischen, aber es sind ja noch nicht alle da.

Im Februar soll die deutsche Ausgabe der amerikanischen Vanity Fair erscheinen. Es ist das größte Zeitschriftenprojekt der vergangenen Jahre: ,,Ein neues Magazin für das neue Deutschland'' soll es sein, und Ulf Poschardt wird es leiten.

Er sitzt vor einer Reihe Titelbilder, die noch geheim sind. Er ist Ende dreißig, er erzählt überlegt und doch lebendig, während er mit einem Füllfederhalter spielt.

Poschardt hat Bücher über die Kultur der DJs geschrieben, die Mode, das Coolsein, über Sportwagen und Einsamkeit.

Vor der jüngsten Bundestagswahl hat er dazu aufgerufen, FDP zu wählen.

Er erklärte, dass man als Popjournalist nicht mehr links wählen könne, dass die Rebellion zum Auftrag des Bürgertums geworden sei und dem Unterschied zwischen Arm und Reich jener zwischen Faul und Fleißig vorangehe. Es klang grundsätzlich, es war aber persönlich.

Wenn er sich mit Freunden vor einen ,, Wahlomaten'' gesetzt hatte, bei denen man Passagen aus Wahlprogrammen bewertet, ohne zu wissen, von welcher Partei sie stammen, kam bei allen am Ende die FDP heraus. Seine Freunde wählten trotzdem SPD, aber er nicht.

,,Ich verstehe nicht, wie man ständig gegen seine eigenen Überzeugungen entscheiden kann'', sagt Ulf Poschardt.

Er war für Schröder, weil er dachte, es würde anders als unter Kohl. Er war für Westerwelle, weil er dachte, es würde anders als unter Schröder. Nun hat er Beck. ,,Sehen Sie zur Zeit einen Hoffnungsträger?'', fragt er. Es ist, als sei eine Sehnsucht um ihm, danach, dass alles neu werden kann, dass es so etwas wie einen Durchbruch gibt. Kann sein, dass es in der Zeitschrift funktioniert. Aber in der Demokratie?

,,Irgendwann wird etwas passieren'', sagt er, ,,ich hab' das Phantasie-Gen''.

Also geht man das schöne Treppenhaus wieder hinunter, am Ausgang steht eine Frau vom Wachdienst, sie hält einen Schäferhund an der Hand. Er müsste auf dem blanken Marmor sitzen, hätte sie ihm keine Decke hingelegt, eine, wie man sie auf Wochenmärkten anbietet, hellblau, mit einem süßen Husky drauf.

Rainer Hennig steht auf der Friedrichstraße in Berlin, zwischen teuren Läden und Büros. Mütze auf dem Kopf, Schild in der Hand, er bettelt. Vor kurzem sei Herta Däubler-Gmelin vorbeigelaufen, sagt er, die frühere Justizministerin, und sie habe ihn gefragt, was passiert sei.

Hennig war Bibliothekar in der DDR, dann holte ihn die Stasi, weil er auch in der Opposition war. Er kam für dreieinhalb Jahre nach Bautzen, seine Frau verließ ihn, die Mauer fiel, sein Sohn verunglückte, und er konnte das Geld für die Beerdigung nicht auftreiben, aber davon habe er Herta Däubler-Gmelin nicht erzählt, nur von der Räumungsklage und von dem Ärger mit dem Sozialamt. ,,Da kann man mal sehen, was man für Pech haben kann im Leben'', habe sie gesagt und sei gegangen, ohne ihm etwas zu geben. ,,Wegen solchen Sprüchen hab' ich NPD gewählt'', habe er ihr nachgerufen. Da habe sie wieder kehrtgemacht.

,,Sie wissen wohl nicht, dass das Verbrecher sind?'', habe sie laut gefragt.

Rainer Hennig hat den Grünen mal im Wahlkampf geholfen, er würde nie NPD wählen. Er sagt, er habe das mit der NPD zu Däubler-Gmelin nur gesagt, weil er sich nicht anders zu helfen gewusst habe.

Potsdam hat sich in den vergangenen Jahren zu einem edlen Vorort Berlins entwickelt. Leute wie Wolfgang Joop, Günther Jauch und Mathias Döpfner wohnen hier und setzen sich für die Stadt ein, in der es Straßen gibt, die nur von Villen gesäumt sind - eine ist die Villa Ritz. Sie hat ihren Namen von Johann Heinrich Ritz, Kämmerer des preußischen Königs, nicht von der Hotelkette, obwohl es passen würde. In der Villa Ritz wird Ende des Jahres ein Kindergarten eröffnet, wie es ihn in Deutschland noch nicht gab: Rezeption, Sauna, Planschbecken, Salon, Physiotherapie, Bibliothek, Ballett, Rollenspielraum, Kreativraum, Erlebensraum, Nestraum, Restaurantküche, Personenschutz rund um die Uhr, Verkehrssprache Deutsch, Englisch, Wahlsprache Spanisch und Chinesisch, Musikpädagogik, Arbeiten nach Themen, Lust auf Bildung, Selbstästhetisierung, regelmäßige Entwicklungsberichte für die Eltern und die Möglichkeit, die Kinder auch über Nacht dazulassen. Das alles für knapp 1000 Euro im Monat.

Raimond Wagner ist einer der fünf Gesellschafter, ein Psychologe, die anderen sind: Sozialpädagoge, Steuerberater, Bankerin, fast alle wohnen sie in Berlin, sie hätten sich aber nicht vorstellen können, dort so einen Kindergarten zu eröffnen. Das Umfeld stimmte einfach nicht. ,,In Berlin sehen manche Bezirke aus, als würden sie komplett vom Sozialamt betreut'', sagt er: ,,In Potsdam gibt es die Sehnsucht nach Großbürgerlichem.''

Herta Däubler-Gmelin lässt ausrichten, dass der Bettler, der mit ihr auf der Friedrichstraße über die NPD diskutiert haben will, sich irren müsse.

Es ist nicht lange her, da hat es Tutow noch nicht gegeben, und es ist nicht lange hin, dann gibt es Tutow vielleicht nicht mehr. Tutow liegt in Vorpommern, nicht an der Küste, nicht in der Nähe einer großen Stadt. Es liegt, wo nun mal Platz war. Gleich, nachdem die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren, bauten sie hier einen Flugplatz für ihre Jagdfliegerstaffel, eine Kaserne für die Mannschaften, Häuser für die Offiziere und daneben einen Ort: Tutow.

,,Im Grunde wurden wir für den Krieg gemacht'', sagt Peter Littmann.

Er ist ein energischer Mann Ende vierzig, er sitzt im Auto und fährt einen durch den Ort, dessen Bürgermeister er ist. Nach den Nazis waren die Russen gekommen, sie übernahmen den Flugplatz, und als sie fünfzig Jahre später wieder gingen, blieben die Plattenbauten zurück, die sie auf der Wiese aufgestellt hatten. Da war schon Deutschland. Die Gemeinde renovierte die Platte, Leute zogen ein, auf einmal lebten in Tutow nicht mehr nur 1500 Menschen, sondern 2500. ,,Eigentlich sah es ganz gut aus'', sagt Peter Littmann, ,,eine Zeit lang''.

Er zeigt die Schule, die sie saniert haben, Feuerwehr, Sportplatz, Altersheime. Es gibt einige schöne Einfamilienhäuser mit Garten, die Straßen sind in Ordnung, sie haben sogar eine Tankstelle hier. Littmann möchte nicht, dass man einen falschen Eindruck bekommt.

,,Ich will nicht alles negativ sehen.''

In Tutow sind 60 Prozent der Leute ohne Arbeit. Die Konservenfabrik ist zu, in der Senffabrik arbeiten zwei Leute. Die Plattenbauten stehen leer, die Einfamilienhäuser nicht, weil viele Leute sie renoviert haben, als sie Arbeit hatten, jetzt haben sie Kredite. Die einzige Kneipe, die es gibt, hat der Wirt ganz in DDR eingerichtet, eine Museumskneipe für die Touristen. Peter Littmann hat eine kleine Firma für Sonnenkollektoren, sie besteht eigentlich nur aus ihm selbst, aber sie ernährt ihn. Die Sonne kann ja nicht abwandern.

Er parkt vor einem kleinen Einkaufszentrum, in dem kein Penny mehr ist, kein Fleischer, keine Sparkasse, kein Getränkemarkt, aber eine Drogerie. ,,Wir müssen durchhalten'', sagt er.

Die Diktatur konnte einfach entscheiden, so, wir brauchen ein Dorf, hier gibt es Platz, da kommt es hin. Die Demokratie kann das nicht. Sie kann nicht mal verhindern, dass es wieder verschwindet.

Littmann ist zur Zeit nur amtierender Bürgermeister. Die alte Bürgermeisterin ist gerade zurückgetreten, sie war 26 Jahre lang im Amt, vor und nach der Wende. Als sie ihren dritten Herzinfarkt bekam, gab sie auf. Nun ist Littmann dran.

,,Aufgerieben für Tutow'', sagt er.

Michael Schindhelm ruft plötzlich an. Er sagt, er erinnere sich jetzt doch noch, dass er Merkel eine Widmung ins Buch geschrieben habe. Es muss im Jahr 2000 gewesen sein. Sie kam zu einer Lesung, er schenkte ihr das Buch und schrieb die Widmung, die im Buch wiederum eine Szene gewesen war.

Frank Ditsche geriet in die Politik, als vor dem Kindergarten seines Sohnes ein Kind angefahren wurde. Er hatte den Aufprall lange im Ohr. Er gründete die Initiative ,,Sichere Sommerstraße'', er erreichte, dass die Tempo-30-Zone ausgeweitet wurde. Sein Sohn wurde größer, und die Zahnärztin empfahl, die Backenzähne zu versiegeln, was die Kasse zwar bezahlte, aber erst für Sechsjährige, und sein Sohn war fünf. Da ging Ditsche vor Gericht. Er klagte auf Einhaltung des Gleichheitsgrundsatzes, da nicht einzusehen sei, weshalb die Zähne eines Sechsjährigen schützenswerter seien als die eines Fünfjährigen. Er verlor, aber dass die Sache seit zwei Jahren nun gesetzliche Leistung ist, führt er auf sich zurück. Als dann der Berliner Bankenskandal losbrach, stellte sich Ditsche selbst auf, Einzelkandidat, Berlin-Reinickendorf. Seitdem trat er viermal zur Wahl an, zweimal Abgeordnetenhaus, zweimal Bundestag. Zuletzt holte er 288 Stimmen. Gerade ist er am Thema Pfand dran, der Lidl um die Ecke nimmt die Flaschen nicht zurück, wenn sie zerdrückt sind. Ditsche hat sich also beschwert, bis hinauf in die Zentrale. Sollten sie ihn noch mal wegschicken, sieht er sich gezwungen, die Pfandsumme gerichtlich anzumahnen. Außerdem wird er das Kartellamt einschalten. Am Anfang dachte man, wie gut es ist, wenn sich jemand freiwillig einsetzt für etwas. Am Ende denkt man, wenn alle so wären wie Ditsche, man würde durchdrehen. Demokratie braucht auch Müdigkeit.

Wenn man mit jemandem redet, der die große Koalition von innen kennt, ist es leicht, sich für sie zu interessieren. Dann sieht man zwei Lager, die sich in vielem näherliegen, als man dachte, aber genau darum weniger zustandebringen als möglich. Wären sie in den Positionen unterschiedlicher, so wie zur ersten Großen Koalition, oder in ihrer Stärke, wie bei Rot-Grün, müssten sie nicht dauernd darauf achten, unterscheidbar zu bleiben. So aber kann der eine dem anderen kein Feld überlassen, immer wollen beide darauf ackern, misstrauisch beobachten sie einander. Was von außen als Bewegungslosigkeit erscheint, ist innen abgezirkelt. Das klingt, als kontrolliere die Koalition vor allem sich selbst. Sie hat keine Wahl, weil die an ihr nichts ändern würde.

Nachdem Sabine Christiansen sonntags ihre Zuschauer verabschiedet hat, treffen sich ihre Gäste noch zu einem Empfang und diskutieren weiter. Dort sagen sie die Sachen, die sie in der Sendung nicht sagen wollten, das war schon immer so. Aber so wie jetzt war es nie.

,,Es ist interessant, wie stark das mittlerweile auseinanderklafft'', sagt sie.

Sabine Christiansen sitzt in ihrem Büro am Potsdamer Platz, sie sieht Reichstag, Kanzleramt und Landesvertretungen, die Bauten der Berliner Republik. Die Menschen darin sah sie bisher in ihrem Studio. Das hat sich geändert.

Es ist schwerer geworden, wichtige Politiker zu finden, die in die Sendung kommen wollen. Seit Wochen lädt die Redaktion Franz Müntefering ein, damit er die Reform der Arbeitsmarktreform erklärt, er will nicht. Er ist nicht der Einzige, der nicht kommt, und die, die kommen, wollen sich nicht mehr streiten.

,,Es gibt jetzt eine Angst vor dem Wort Streit, das verstehe ich nicht'', sagt sie.

Seit acht Jahren schlägt der politische Wanderzirkus in ihrem Studio sein Zelt auf. Artisten, die ihre eigenen Nummern auswendig kannten und die der anderen auch. Immer war alles klar, immer wussten alle Bescheid. Nie lernte einer was dazu, nichts hatte Folgen. Erst gab es keine Lösungen, jetzt nicht mal mehr Streit. Dabei fallen die Quoten.

Die Redaktion versucht jetzt, weniger Politiker einzuladen, mehr Bürger, Künstler, Wissenschaftler, den Kreis zu öffnen, ein Thema anzusetzen, egal, ob der Minister zusagt. Vielleicht geht's so.

,,Es ist nicht schwieriger geworden eine spannende Sendung zu machen, wir machen die Sendung sowieso'', sagt Sabine Christiansen noch.

Wenn man sie reden hört, fragt man sich, warum sie aufhören will.

Nächsten Sommer bekommt Günther Jauch ihren Sendeplatz. Er hat es mal geschafft, eine Stunde lang mit Marcel Reif ein Fußballspiel zu kommentieren, obwohl auf dem Platz überhaupt nichts passierte. Das Tor war umgefallen.

Weißbartpekaris sind Nabelschweine. Sie stammen aus Südamerika, wo sie in Rotten durch die Wälder ziehen. Vor zwanzig Jahren wurden acht von ihnen in den Berliner Zoo gebracht. Eine Indianerin hatte sie aufgezogen, konnte sich ihrer, als sie größer wurden, aber nicht erwehren, sie wurde totgebissen. Weißbartpekaris sind aggressive Tiere. Damit sie in großen Rotten leben können, müssen sie ihre Aggression ableiten - dafür suchen sie sich jemanden aus ihrer Gruppe.

Im Grunde kann es jeden treffen, aber wenn es ihn einmal getroffen hat, ist es nicht mehr zu ändern. Jeder darf sich an ihm abreagieren. Der Rest geht weiter zuvorkommend miteinander um, denn Weißbartpekaris sind auch gesellig. Sie haben eine Drüse auf dem Rücken, über die sie den Duft der Gruppe übertragen, wenn sie sich aneinanderreiben. Am Prügelknaben will sich niemand reiben, so verliert er den Geruch. In Freiheit wird er dann vom Jaguar gefressen. Im Zoo sitzt er am Rand des Geheges, manchmal spielen die anderen Flipper mit ihm. Es gibt solche, die halten das Monate durch, manche nur Wochen. Irgendwann kommt der Pfleger, erschießt sie und verfüttert sie an die Geier. Danach dauert es einige Tage, und dann treiben die Weißbartpekaris aus dem Berliner Zoo die nächste Sau durchs Dorf.

Borkum. Das Haus, in dem Gerhard Schröder zwei Ferienwohnungen gekauft hat, liegt in einer Reihenhaussiedlung im Westen der Insel. Es ist aus rotem Backstein, hat zwei Balkons und einen kleinen Garten, der von hölzernen Palisaden umgeben ist und in dem außer Gras und Hagenbutten nichts wächst. Rechts schaut man auf das Gewächshaus und den Wintergarten der Nachbarn, links auf ein anderes Ferienhaus. Von keinem der Fenster aus kann man das Meer sehen, der Deich ist zu hoch.

Keine Ahnung, was man erwartet hatte. Aber das Haus passt zu nichts davon. Es passt nicht zu Brioni, nicht zu Positano, nicht zu Putin, nicht zu Basta.

Es heißt, er habe hier seine Erinnerungen aufgeschrieben oder immerhin redigiert, das Buch über seine Zeit in der Politik, über seine sieben Jahre als Kanzler. Man kann sich das gar nicht vorstellen.

Das ist alles ein Missverständnis.

Ein Sonntag in Berlin. Am Hotel Adlon sind Limousinen vorgefahren, die Chauffeure warten, Leibwächter flüstern in Jackenärmel. Leute bleiben stehen und packen Fotoapparate aus. Sie wissen nicht, wer aus dem Hotel kommen wird, sie fragen andere, die auch stehen geblieben sind, die wissen es auch nicht, aber jede Minute werden es mehr. Alle warten, keiner weiß worauf. Sie stehen entlang des roten Teppichs Spalier, so dicht, dass keiner durchkommt, aber die Gasse, die sie bilden, bleibt leer.

Auf einmal hat man das Gefühl, zu sehen, wie das Nichts passiert.

Aber auch das geht vorbei.

© SZ vom 21.10.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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