Süddeutsche Zeitung

·:Ein genialer Verkäufer

Das System Berlusconi funktioniert in Italien perfekt - und ist nur mit den eigenen Waffen zu schlagen.

Von Umberto Eco

Was spielt sich zur Zeit in Italien ab? Jeden Tag hört man von energischen Protesten (zum Glück auch in anderen europäischen Ländern) gegen den schleichenden Staatsstreich, den Berlusconi betreibt.

Wir alle haben inzwischen gemerkt, dass die Diskussion, ob Berlusconi ein "Regime" zu installieren versucht, missriet, solange wir bei dem Wort "Regime" automatisch an das faschistische Regime dachten, denn ehrlicherweise musste man zugeben, dass Berlusconi keine Dissidenten in die Verbannung schickte, keine jungen Männer in Schwarzhemden steckte, keine Gleichschaltung des Parlaments betrieb und so weiter.

Konsens auf populistischer Basis

Aber auch wenn man unter "Regime" nur allgemein eine Regierungsform verstand, war nicht gleich klar, dass Berlusconi dabei ist, eine autoritäre Regierungsform zu installieren, die auf der Gleichsetzung seiner Partei und des Landes mit seinen Geschäftsinteressen beruht.

Er macht das nicht mit Polizeioperationen, Verhaftung von Deputierten und gewaltsamer Abschaffung der Pressefreiheit, sondern indem er Zug um Zug die wichtigsten Medien besetzt und einen Konsens auf populistischer Basis schafft.

Inzwischen haben sich einige Dinge bestätigt, nämlich:

1. Berlusconi ist mit dem vorrangigen Ziel in die Politik gegangen, Prozesse abzublocken oder abzuwenden, die ihn ins Gefängnis bringen konnten.

2. Berlusconi ist dabei, ein autoritäres System nach Konzernherrenart zu errichten.

3. Berlusconi betreibt sein Projekt, indem er sich auf eine unbestreitbare Wählerzustimmung stützt, wodurch er seinen Gegnern die Waffe des Tyrannenmordes nimmt, da sie bei aller Gegnerschaft den Willen der Mehrheit respektieren müssen und nichts anderes tun können, als einen Teil dieser Mehrheit dazu zu bringen, Überlegungen wie die vorliegende zu akzeptieren.

4. Gestützt auf die Wählerzustimmung lässt Berlusconi Gesetze verabschieden, die allein in seinem persönlichen Interesse liegen und nicht in dem des Landes.

5. Aus all diesen Gründen verhält sich Berlusconi nicht wie ein Staatsmann, ja nicht einmal wie ein traditioneller Politiker, sondern benutzt andere Methoden - und gerade deshalb ist er gefährlicher als ein Caudillo früherer Zeiten, denn diese Methoden scheinen auf den ersten Blick mit den Prinzipien eines demokratischen Regimes vereinbar.

6. Ergebnis all dessen: Berlusconi hat die Phase des Interessenkonflikts überwunden, um jeden Tag der absoluten Interessenkonvergenz ein Stück näher zu kommen, soll heißen, dem Land den Gedanken akzeptabel zu machen, dass seine persönlichen Interessen mit denen der ganzen Nation zusammenfallen.

Italien, ein Labor?

Dies ist nun gewiss ein neues Regime, und es macht so rasante Fortschritte, dass die Besorgnis der europäischen Presse nicht auf Mitleid und Liebe zu Italien zurückzuführen sind, sondern schlicht auf die Befürchtung, dass Italien, wie in einer anderen unseligen Zeit, womöglich das Labor für Experimente ist, die auf ganz Europa übergreifen könnten.

Das Problem ist, dass die Opposition gegen Berlusconi, auch im Ausland, sich von einer siebten Überzeugung leiten lässt, die falsch ist. Nämlich vom Glauben, dass Berlusconi, weil er kein Staatsmann sei, sondern ein Geschäftsmann, dem es nur um das Wohlergehen seines Ladens geht, nicht merke, dass er heute dies und morgen das Gegenteil sagt, dass er aus Mangel an politischer und diplomatischer Erfahrung zu Grobheiten neige, in alle möglichen Fettnäpfchen trete und so weiter.

So gesehen bietet sich die Figur Berlusconi zur Satire an, und seine Gegner trösten sich manchmal mit dem Gedanken, er habe den Sinn für die Proportionen verloren und werde, ohne es zu bemerken, in sein Verderben laufen.

Kunst der Provokation

Dabei ist Berlusconi ein Politiker ganz neuer Art, der gerade durch seine unbegreiflichsten Gesten eine komplexe, kalkulierte und subtile Strategie befolgt, an der sich zeigt, dass er seine Nerven voll unter Kontrolle hat und über eine hohe operative Intelligenz verfügt (und wenn nicht über einen hohen analytischen Verstand, so doch über einen phantastischen Verkäuferinstinkt).

Was bei Berlusconi ja in der Tat frappiert (und leider auch amüsiert), ist sein Exzess an Verkäufertechnik. Man braucht nicht an den billigen Jakob zu denken, die Karikatur dieser Technik.

Sehen wir uns die Methoden eines Autoverkäufers an. Zuerst behauptet er, dass der Wagen, den er anbietet, praktisch ein Bolide sei, dass Sie das Gaspedal nur anzutippen brauchen, um ihn auf hundertachtzig zu bringen, und dass der Renner genau der richtige für eine sportliche Fahrweise sei.

Aber sobald er bemerkt, dass Sie fünf Kinder und eine invalide Schwiegermutter haben, geht er umstandslos dazu über, Ihnen zu beweisen, dass der Wagen ideal für eine sichere Fahrweise sei, dass er absolut ruhig liege und sich bestens für eine Familie eigne.

Dem Verkäufer ist es egal, ob Sie seine Rede in ihrer Gesamtheit als kohärent empfinden, ihm liegt nur daran, dass in dem, was er sagt, etwas vorkommt, wofür Sie sich interessieren, worauf Sie anspringen, und dass Sie dann alles andere vergessen werden.

Daher benutzt er alle Argumente gleichzeitig, wie ein Trommelfeuer, ohne sich um eventuelle Widersprüche zu kümmern.

Berlusconis Verkaufstechnik ist offensichtlich von derselben Art (ich erhöhe die Renten, ich senke die Steuern), aber unendlich viel komplexer.

Er muss Konsens verkaufen, aber er spricht nicht nur Auge in Auge mit seinen Kunden. Er muss die Rechnung mit der Opposition machen, mit der öffentlichen Meinung, auch im Ausland, und mit den Medien (die noch nicht alle ihm gehören), und er hat entdeckt, wie er deren Kritik zu seinen Gunsten wenden kann.

Darum muss er Versprechungen machen, die, gleich wie seine Anhänger sie finden, in den Augen seiner Kritiker als Provokationen erscheinen. Und er muss jeden Tag eine Provokation vorbringen, am besten eine ganz unglaubliche und völlig inakzeptable.

So besetzt er die Hauptnachrichten der Medien und steht immer im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Zu dieser Strategie gehört auch, dass man, um Provokationen am laufenden Band zu erzeugen, nicht nur allein reden darf, sondern den Unbesonnensten unter den eigenen Leuten freie Hand lassen muss.

Es ist nicht nötig, ihnen Weisungen zu erteilen; wenn man sie gut ausgesucht hat, werden sie von alleine losgehen, und je mehr Unsinn sie reden, desto besser. Die Unannehmbarkeit der Provokation erlaubt überdies, zwei weitere Ziele zu erreichen.

Das erste besteht darin, dass jede Provokation letztlich einen Versuchsballon darstellt. Reagiert die Öffentlichkeit nicht energisch genug, bedeutet dies, dass sogar das Undenkbarste denkbar werden könnte. Das zweite Ziel, das erreicht wird, würde ich als Bombentrick-Effekt definieren.

Wenn ich ein Machthaber wäre, der in viele dunkle Geschäfte verwickelt ist, und erführe, dass in zwei Tagen eine Enthüllung in den Zeitungen stehen wird, die meine Machenschaften ans Licht bringen könnte, dann wüsste ich nur eine Lösung: Ich würde dafür sorgen, dass eine Bombe im Bahnhof oder in einer Bank oder auf der Piazza nach der Sonntagsmesse hochgeht.

Dann wäre ich sicher, dass für mindestens vierzehn Tage die Titelseiten der Zeitungen und die Hauptmeldungen der Tagesschauen mit dem Attentat beschäftigt wären und die mich betreffende Nachricht, auch wenn sie erschiene, so gut wie unbemerkt bliebe.

Ein typischer Fall von Bombentrick war Berlusconis Vergleich des deutschen EU-Parlamentariers mit einem KZ-Kapo, gefolgt von der als Flankenschutz gedachten Äußerung des Lega-Mannes Stefani über die rülpsenden und pöbelnden deutschen Touristen.

Ein unerklärlicher Ausrutscher, über den man nur den Kopf schütteln kann, zumal er internationale Empörung hervorgerufen hat, und das ausgerechnet zu Beginn der italienischen EU-Präsidentschaft?

Keineswegs. Nicht nur, weil er den latenten Chauvinismus eines Großteils der öffentlichen Meinung hervorgekitzelt hat (das war nur ein Nebeneffekt), sondern weil genau zu dieser Zeit im Parlament über die Gesetzesvorlage "Gasparri" diskutiert wurde, deren Verabschiedung das öffentlich-rechtliche Fernsehen endgültig begraben und die Dividenden von Berlusconis Mediaset vervielfacht hat.

Aber das ist mir nur klar geworden, als ich zufällig, unterwegs auf der Autobahn, in Radio Radicale eine Direktübertragung aus dem Parlament hörte.

Die Zeitungen brachten Seiten um Seiten über Berlusconi als Rüpel und Fettnäpfchentreter, über die Tatsache, dass die Deutschen trotzdem weiter nach Italien reisen würden, und über die brennende Frage, ob Berlusconi sich bei Schröder wirklich entschuldigt hatte oder nicht. Der Bombentrick hatte perfekt funktioniert.

Tamtam im Internet

Wir könnten die Titelseiten der Zeitungen aus den letzten zwei Jahren durchsehen, um zu berechnen, wie viele Bombentricks dieser Art produziert worden sind. Angesichts von ungeheuerlichen Behauptungen wie der, dass die Richter allesamt in die Psychiatrie gehörten, stellt sich die Frage, welche andere Initiative diese Bombe in den Hintergrund drängen sollte.

In diesem Sinne kontrolliert und dirigiert Berlusconi in Konzernchefmanier die Reaktionen seiner Gegner, verwirrt sie, hetzt sie gegeneinander auf und benutzt sie, um zu beweisen, dass sie seinen Ruin wollen und dass jeder Appell an die öffentliche Meinung ein heimtückischer Angriff auf seine Person sei.

Wenn dies seine Strategie ist, hat sie sich bisher als siegreich erwiesen. Wenn diese Analyse zutrifft, hat Berlusconi seinen Gegnern noch einiges voraus.

Wie kann man dieser Strategie entgegentreten? Da die Opposition nun einmal, solange Berlusconi das Spiel in der Hand hat, seine Regeln befolgen muss, kann sie die Initiative nur ergreifen, indem sie Berlusconis Regeln - positiv gewendet - übernimmt.

Wenn es wahr ist, dass die noch nicht von Berlusconi kontrollierten Medien nur die sowieso schon Überzeugten erreichen und der größte Teil der Öffentlichkeit den ihm hörigen Medien ausgesetzt ist, bleibt nichts anderes übrig, als diese Medien zu ignorieren.

Auf ihre Art waren die girotondi bereits ein Element einer neuen Strategie, aber wenn ein oder zwei Umkreisungen von Parlaments- oder Gerichtsgebäuden Aufsehen erregen, wecken tausend Demonstrationen dieser Art nur noch Überdruss.

Wenn ich sagen soll, dass die Tagesschau eine Nachricht unterdrückt hat, kann ich das nicht in der Tagesschau sagen. Ich muss auf Taktiken wie das Verteilen von Flugblättern oder Videokassetten zurückgreifen, auf Straßentheater, Tamtam im Internet, Kommunikation über mobile Bildschirme, die an verschiedenen Punkten der Stadt aufgestellt werden, und was sonst noch alles die neue Phantasie des Virtuellen ersinnen mag.

Da man die desinformierten Wähler nicht durch die herkömmlichen Medien ansprechen kann, muss man eben neue erfinden.

Gleichzeitig, auf der eher traditionellen Ebene der Parteien, der Interviews und Auftritte in den Talkshows, muss die Opposition ihre eigenen Provokationen vorbringen.

Um nur ein einziges Beispiel zu bringen: Ein Plan zur Kontrolle der Teuerung durch den Euro würde auch jene sehr interessiert aufhorchen lassen, die sich von Berlusconis Interessenkonflikt nicht betroffen fühlen.

Es würde darum gehen, kontinuierlich und positiv Vorschläge zu machen, die eine andere Art des Regierens durchblicken ließen und die regierende Mehrheit zwingen würden, sich für oder gegen sie auszusprechen - wobei sie in letzterem Fall gezwungen wäre, ihre eigenen Projekte darzulegen oder ihre eigene Untätigkeit zu rechtfertigen, ohne sich auf allgemeine Anklagen einer ewig bloß lärmenden Opposition zurückziehen zu können.

Wenn ich den Leuten sage, dass die Regierung dies oder das falsch gemacht hat, können sie nicht wissen, ob ich Recht oder Unrecht habe. Wenn ich aber sage, dass ich dies oder das tun würde, könnte die Idee viele aufhorchen lassen, ihre Phantasie entzünden und sie auf die Frage bringen, wieso die Regierung das nicht tut.

Freilich müsste, um eine solche Strategie zu entwickeln, die Opposition einig sein, denn man entwickelt keine akzeptablen und phantasieanregenden Projekte, wenn man sich zwölf Stunden täglich in inneren Kämpfen verzehrt.

Aber hier betreten wir ein anderes Universum, und das größte Hindernis scheint die nunmehr über hundertjährige Tradition zu sein, nach der sich die Linken der ganzen Welt immer nur im Zerstören ihrer eigenen inneren Häresien üben und die Erfordernisse dieses Bruderkampfes dringlicher finden als die frontale Auseinandersetzung mit dem Gegner.

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Quelle:
Von Umberto Eco ist zuletzt der Essayband "Die Bücher und das Paradies: Über Literatur" bei Hanser erschienen. Deutsch von Burkhart Kroeber <p>SZ vom 24.10.2003</p>
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