Ein Aufsatz:Worte ohne Ziel

Rechtzeitig zur Buchmesse ist in der Zeitschrift "Sinn und Form" ein Essay des Literaturwissenschaftlers Heinz Schlaffer über "Probleme des Plauderns" erschienen - mit Blick auf das Wiener Fin de Siècle, Fontane und Tschechow.

Von Lothar Müller

Eine der verschlungensten Geschichten, die sich über die moderne Literatur erzählen lassen, handelt von ihrer Mimikry mit Formen der Mündlichkeit. Leicht fällt diese dort, wo jemand redet wie gedruckt. Denn die geistvolle Konversation schielt mehr oder weniger unverhohlen nach der Anthologie, in die ihre Sottisen, Aperçus und Aphorismen einzugehen hoffen. Je absichtsloser, zielloser geredet wird, desto anspruchsvoller wird die Aufgabe der Literatur. Das zeigt der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer im jüngsten Heft der Zeitschrift "Sinn und Form" ("Probleme des Plauderns". 71. Jg., Heft 2, März/April, Berlin 2019, 288 S., 11 Euro).

Sein Ausgangspunkt ist eine kleine Kontroverse über den "Plauderbrief" zwischen dem jungen, erst 16 Jahre alten Hugo von Hofmannsthal und dem mehr als zwanzig Jahre älteren Wiener Schriftsteller Gustav Schwarzkopf, einem Freund Arthur Schnitzlers. Vehement verteidigt darin der Gymnasiast die "Gabe schriftlich zu plaudern" gegen ihre Geringschätzung aus der hohen Warte der Seriosität. Seit dem 18. Jahrhundert lebte die Briefkultur, zumal die empfindsame von der "zwanglosen" Ansprache der abwesenden Adressaten, mit dem Briefschreiber und Briefschreiberinnen in fingierter Mündlichkeit verkehrten, als seien sie anwesend. Im Fin de Siècle hatte sich dem Briefpapier längst das Zeitungspapier hinzugesellt, Alfred Kerr schrieb ab 1897 für die Königsberger Allgemeine Zeitung seine "Plauderbriefe" und trug zur Festigung der Liaison bei, die das Feuilleton weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein mit der Kunst des schriftlichen Plauderns unterhielt. Sie lebt, wie Schlaffer zeigt, von der Aufwertung der lange verpönten leeren Rede "ohne eigentlichen Stoff, ohne Substrat", zu deren Geringschätzung ihre Bindung an das weibliche Geschlecht beigetragen hatte. Es gab geschwätzige Männer, aber ihnen wurde eine Untugend der Frauen angelastet. Das Plaudern, das Worte ohne Ziel zu luftigen Girlanden verknüpfte, stand in verlässlichem Gegensatz zum Ernst des Lebens.

Nicht nur bei Arthur Schnitzler im Wiener Fin de Siècle , auch im Preußen der Romane Fontanes und im Russland der Dramen Tschechows begannen Gerichtsreferendare, Ärzte, hochrangige Beamte und Gutsbesitzer zu plaudern. Aus Büchern konnten die Autoren den Ton nicht lernen, den sie dabei zu treffen hatten. Sie mussten schon hinhören, und sich dem Plauder-Paradox stellen: "Steht Plaudern im Dienst der Literatur, so verspricht sie eine Freiheit von Absichten; aber gerade auf Absichten kann die Literatur nicht verzichten."

In den Sprachexperimenten der Avantgarde, im Bündnis von Expressionismus und Revolution sieht Schlaffer das Plaudern in der Literatur untergehen. Trösten könnte er sich mit einem Blick auf Marcel Proust, in dessen "Recherche" Walter Benjamin die Absicht erkannte, "den ganzen Aufbau der höheren Gesellschaft in Gestalt einer Physiologie des Geschwätzes zu konstruieren".

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