Aufsatz von Hannah Arendt:Wir Flüchtlinge

Aufsatz von Hannah Arendt: "We Refugees" ("Wir Flüchtlinge") war 1943 als eine der ersten englischsprachigen Veröffentlichungen Arendts in der Zeitschrift "Menorah Journal" erschienen.

"We Refugees" ("Wir Flüchtlinge") war 1943 als eine der ersten englischsprachigen Veröffentlichungen Arendts in der Zeitschrift "Menorah Journal" erschienen.

(Foto: dpa)

Sie haben ihren Alltag und ihre Sprache verloren: "Wir Flüchtlinge" von Hannah Arendt stammt von 1943, er lohnt die erneute Lektüre.

Von Volker Breidecker

Die Zahl derer, die in Deutschland und Europa heute Zuflucht suchen, steht in keinem Verhältnis zu den Millionen und Abermillionen Flüchtlingen und Vertriebenen, die einst im Gefolge zweier Weltkriege heimat- oder staatenlos wurden. Eine unter ihnen war die Philosophin Hannah Arendt. Dem Tod war sie 1941 nur durch erneute Flucht entronnen: Als Flüchtling ohne Pass, der wie allen aus Deutschland entkommenen Juden die Staatsbürgerschaft entzogen worden war, hatten die französischen Behörden sie nach Kriegsausbruch als "feindliche Ausländerin" interniert. Von den nachrückenden Deutschen wurden die im berüchtigten Lager Gurs verbliebenen jüdischen Insassen dann in die Vernichtungslager des Ostens deportiert.

In ihrem Hauptwerk "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" (1951) sollte Hannah Arendt die Analyse des Lagersystems ins Zentrum der Analyse des modernen Totalitarismus rücken. Doch schon Anfang 1943 brachte sie mit bitterer Lakonie zum Ausdruck, was schon damals keiner so genau hören wollte: "Offensichtlich will niemand wissen, dass die Zeitgeschichte eine neue Gattung von Menschen geschaffen hat - Menschen, die von ihren Feinden in Konzentrationslager und von ihren Freunden ins Internierungslager gesteckt werden."

"Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren", schreibt sie.

Der Essay "We Refugees" ("Wir Flüchtlinge") war im Januar 1943 als eine der ersten englischsprachigen Veröffentlichungen Arendts in der jüdischen Zeitschrift Menorah Journal erschienen. Er schien einer längst vergangenen Epoche anzugehören, als er 1986 auch in deutscher Übersetzung erschien. Jetzt wurde er nachgedruckt in dem von den Machern der kommenden Documenta 14 adoptierten, sonst in Athen beheimateten internationalen Kunstmagazin South As A State Of Mind (Issue 6, Fall/Winter 2015. 10 Euro; auf der Website der Documenta auch in deutscher und griechischer Sprache).

Was es konkret bedeutete, Flüchtling zu sein, musste Arendt sogar ihrem migrationserfahrenen amerikanischen Publikum erklären: "Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren", schreibt sie: "Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unsere Gefühle." Überdies habe das Getrenntsein von den zurückgelassenen oder ermordeten Freunden und Angehörigen "den vollständigen Zusammenbruch unserer privaten Welt" zur Folge.

Und da wollen oder sollen Flüchtlinge sich auch noch rasch an eine neue Nation assimilieren? Dagegen polemisiert Arendt: "Wir sind ein wenig hysterisch geworden, seit Zeitungsleute damit angefangen haben, uns zu entdecken und öffentlich zu erklären, wir sollten aufhören, unangenehm aufzufallen, wenn wir Milch und Brot einkaufen." In einer Welt hingegen, "in welcher bloße menschliche Wesen schon eine geraume Weile nicht mehr existieren", weil der Grad ihres Menschseins an vorhandenen oder eben nicht vorhandenen "Pässen, Geburtsurkunden, und manchmal sogar Einkommenssteuererklärungen" gemessen werde, repräsentierten "die von einem Land ins andere vertriebenen Flüchtlinge die Avantgarde ihrer Völker". Aber nur dann, "wenn sie ihre Identität aufrechterhalten". Diese aber besteht offenbar in prinzipieller Nicht-Zugehörigkeit, zumindest außerhalb der Antizipation einer - mit Immanuel Kant gesprochen - "Gemeinschaft aller Völker auf Erden".

Für Arendt scheint diese weltbürgerliche Perspektive um so dringlicher geworden zu sein, als Europa zerbrochen war: "Und die Gemeinschaft der europäischen Völker zerbrach", so schließt sie im Rückblick, der heute beinahe schon wieder prophetisch anmutet, "als - und weil - sie den Ausschluss und die Verfolgung seines schwächsten Mitglieds zuließ." Damals waren das die Juden.

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