Ein Aufsatz:West-östliche Spiegelungen

Durch einen offenen Brief an die Kommunistische Partei Litauens wurde Tomas Venclova zu Dissidenten. Später schrieb er einen Essay über das Glück des Exils, der jetzt in "Sinn und Form" wieder abgedruckt wird.

Von Volker Breidecker

Zum Dissidenten wurde Tomas Venclova mit einem offenen Brief vom 9. Mai 1975 an das ZK der Kommunistischen Partei Litauens: Da verlangte ausgerechnet der Sohn von Antanas Venclova - vormals prominentes Mitglied der Nomenklatura - das "Recht auf Emigration" und erklärte seinen Dissens: "Die kommunistische Ideologie ist mir fremd und meiner Meinung nach größtenteils falsch. Ihre absolute Herrschaft hat unserem Land viel Unglück beschert." Es war dies eine Absage auch an jedes Zukunftsversprechen, in dessen Namen staatlicher Terror, Menschheitsverbrechen und fortdauernde Repression vor einer vermeintlich höheren historischen Instanz ihre Rechtfertigung finden sollten.

"Verlaß dies Ufer. Fahren wir." Vom baltischen Meeresufer war der 1937 in der Hafenstadt Klaipeda (Memel) geborene Dichter ohnehin abgeschnitten: Im "Imperium am abgesperrten Meer" lag "vor der Tür das Ende der Welt". Venclovas Versen ist die Erfahrung von Exil und Emigration eingeschrieben. Ihm selbst wurde wenige Monate nach seiner genehmigten Ausreise im Juni 1977 vom Obersten Sowjet der UdSSR die Staatsbürgerschaft entzogen. In den USA erhielt er Asyl und den Pass des Aufnahmelands und avancierte zum Professor für Literatur an der Yale University. Als er im Jahr 1988 in der "New York Times Book Review" unter der Überschrift "Der Fürst und sein Zar" einen Essay über "Briefe aus dem Exil" veröffentlichte, dachte er schon längst nicht mehr an Rückkehr.

Venclova nahm darin die Perspektive desjenigen ein, der "sowohl Immigrant als auch Emigrant" ist. Der jetzt wiederabgedruckte Essay ("Sinn und Form", Heft 2, März/April 2018, S. 209-218) widerspricht dem Mythos vom "heimatlichen Boden", ohne den vor Augen angeblich keine Russe und kein Mensch weiterleben könne, ohne zum Verräter an Scholle, Staat und Mütterchen Rus zu werden.

Für die Gegenposition, die selbst den Verlust von Heimat und Identität als Gewinn begrüßt - als Ich-Erweiterung qua Entgrenzung -, ruft Venclova einen historischen Gewährsmann aus dem 16. Jahrhundert zum Zeugen: Fürst Andrei Kurbski, der es als erster russischer Emigrant gewagt habe, "die Nabelschnur zur kollektiven Seele zu kappen und sich zu einem unabhängigen menschlichen Wesen zu entwickeln".

Der unumschränkte Herrscher entscheidet frei über Leben und Tod seiner Untertanen

Venclova konnte bei Erscheinen des Textes nicht wissen, dass die Tage des Sowjetimperiums gezählt waren. Seine Perspektive nahm er deshalb unfreiwillig ein: Der Essay blickte auf das Sowjetreich von dessen nahem Ende zurück auf die Anfänge des großrussischen Reichs unter dem mächtigen Gegenspieler des in Ungnade gefallenen und mitsamt seiner Anhängerschar aus Russland geflohenen Fürsten Kurbski: Die Rede ist von Iwan Grosny, alias "dem Schrecklichen", der um die Mitte des 16. Jahrhunderts vom Moskauer Großfürsten zum Alleinherrscher und ersten "Zar aller Reußen" aufstieg. Gegründet war seine Herrschaft auf nackte Gewalt und Terror, exekutiert durch eine ihm bedingungslos ergebene Geheimpolizei: die berüchtigte "Opričnina", die wie späterhin die GPU und der NKWD als "Staat im Staat" operierte. Zwischen den ehemals eng Verbündeten entwickelte sich ein über fünfzehn Jahre währender Briefverkehr, darin Kurbski Iwan all jener Grausamkeiten anklagte, die auch historisch verbürgt sind, wohingegen der hochgebildete Gewaltherrscher auf die unumschränkte Macht pochte, allein nach seinem Gutdünken auch über Leben und Tod seiner Untertanen zu entscheiden.

Zur Ironie dieser Geschichte gehört, dass sich der Überläufer Kurbski vor Iwans Zugriff ins benachbarte feindliche Ausland abgesetzt hatte: ins Großfürstentum Litauen, des vormals größten Flächenstaats des Kontinents, dessen Grenze bis an den Stadtrand Moskaus reichte. In Personalunion mit dem polnischen Königtum entstand die Adelsrepublik der "Rzeczpospolita", die für damalige Verhältnisse weitreichende Toleranz garantierte - ein multikonfessioneller und mehrsprachiger Vielvölkerstaat, der bis zu seiner Liquidation und Aufteilung durch die expandierenden Mächte Österreich, Preußen und Russland vielen anderswo aus rassischen oder religiösen Motiven Verfolgten - rheinischen Juden, französischen Hugenotten und selbst Abtrünnigen von Calvins Staat - dauerhaftes Asyl und Neubeheimatung bot. 1988 heißt es bei Venclova allerdings noch: "Das Land, das Kurbski Asyl gewährt hat, gehört heute zum Imperium von Iwan."

Nur wenige Jahre fehlten, bis Venclovas Heimat Litauen als erste Sowjetrepublik die Sezession von Moskau erklärte und seine im Gefolge des Hitler-Stalin-Pakts verlorene Unabhängigkeit wiederherstellte. "Mittlerweile" - so kommentiert Venclova den Essay von 1988 in einer heute hinzugefügten Nachschrift - "sind all diese Ereignisse ferne Vergangenheit."

Und doch schloss noch Sergeij Eisensteins grandioses Filmepos über "Iwan den Schrecklichen" - das Vorbild und den Vorläufer Stalins - mit dem Menetekel: "So kehren wir denn zurück, um unseres großen russischen Reiches willen." Auch im Westen scheinen dem heute noch immer so manche nachzutrauern.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: