Süddeutsche Zeitung

Ein Aufsatz:Vernunft & Affekt

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Der Philosophiehistoriker Jürgen Große denkt in "Sinn und Form" über die Aporien der Ressentimentkritik nach. Weist die Attraktivität des Begriffes "Ressentiment" auf die Schwäche derer hin, die ihn benutzen?

Von Lothar Müller

Unverkennbar steigt die Betriebstemperatur der deutschen Gesellschaft. Aus Kinderliedern werden Staatsaffären, rasch ist die gereizte Stimmung zum Buchtitel geworden. Keine Zeitdiagnose, die etwas auf sich hält, kommt noch ohne Affektenlehre aus, und allmählich wird sichtbar, dass es auch im Reich der Affekte so etwas wie eine soziale Binnengliederung gibt. Der Zorn zehrt von seiner Koppelung mit heroischen Figuren, in die Wut mischen sich schon deutlich mehr plebejische Elemente, wo es aber gilt, die niedersten Instinkte in Schach zu halten, da meldet sich unweigerlich die Kritik des Ressentiments zu Wort.

Warum ist das so? "Wer seine politische oder kulturelle Konkurrenz des Ressentiments bezichtigt, verleiht sich damit den Status analytischer Überlegenheit", etabliert den Gegensatz "Politik der Vernunft versus Politik der Affekte", schreibt der Philosophiehistoriker Jürgen Große im aktuellen Heft der Zeitschrift Sinn und Form ("Metamorphosen des Ressentiments" , Sinn und Form, 72.Jahrgang , Erstes Heft 2020). Zum Glück belässt er es aber nicht bei dieser pauschalen Diagnose, sondern zeichnet nach, wie der Begriff "Ressentiment" und die Figur des Ressentimententlarvers ineinander greifen.

Bei Nietzsche ist diese Figur mit den Starken und Vornehmen besetzt, die sich der Sklavenmoral und dem Schwächekult des Christentums entziehen. Der Ressentimententlarver hat die Antike vor Augen und Montaignes Essay "Die Feigheit ist die Mutter der Grausamkeit" gelesen, er weiß, dass Ressentiment kein plötzlich aufflammender Affekt ist, sondern eine aus Schwäche und Ohnmacht geborene Grundstimmung. In Max Webers Nietzsche-Kritik erscheint sie als "Rationalisierung einer kontigent - ökonomisch oder sozial - gegebenen Machtunterlegenheit".

Die Ressentimentkritik war im frühen zwanzigsten Jahrhundert, etwa bei Max Scheler, gegen die liberalen, sozialistischen und anarchistischen Befreiungsutopien gerichtet. Aktuell hat sie Große zufolge politisch die Seiten gewechselt, ist nunmehr "fest in linksbürgerlicher Hand", Teil des Abwehrkampfs gegen den "Mob", das "Pack", den "Wutbürger". Die Frage, die er stellt, beantwortet Große nicht: Ist die Attraktivität des Ressentimentbegriffs ein Indiz für die Schwäche derjenigen, die ihn benutzen? Es ist, genau besehen, keine Frage, sondern eine These.

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SZ vom 22.01.2020
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