Süddeutsche Zeitung

Ein Aufsatz:Verdrängte Mitschuld

Der Theologe Martin Niemöller rief die Deutschen stets dazu auf, sich ihrer Schuld zu stellen. Ein Historiker macht jetzt darauf aufmerksam, dass er in seiner Jugend selbst ideologische Obsessionen des Nationalsozialismus teilte.

Von Friedrich Wilhelm Graf

Als Hitlers "persönlicher Gefangener" in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Dachau ist der protestantische Pfarrer Martin Niemöller in Großbritannien und den USA seit 1937 zu einem Glaubenshelden im Widerstand der Bekennenden Kirche gegen die nationalsozialistische Kirchenpolitik verklärt worden. Doch der Pfarrerssohn, der im Kaiserreich bei der Marine als Berufsoffizier diente und sich erst nach Niederlage und Revolution für ein Theologiestudium entschied, teilte früh zentrale ideologische Obsessionen der Nationalsozialisten.

Der in Sheffield lehrende deutsche Historiker Benjamin Ziemann zeichnet in einem soeben erschienenen Aufsatz "Martin Niemöller als völkisch-nationaler Studentenpolitiker in Münster 1919 bis 1923" detailliert das intensive Engagement des zu Studienbeginn 28-Jährigen in diversen rechtsradikalen Organisationen nach (Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Heft 2, April 2019, 16 Euro). Nicht nur trat Niemöller der Studierendengruppe der "Deutschnationalen Volkspartei" bei, in der er bald den Vorsitz übernahm. Vielmehr arbeitete er auch für die Partei, und wurde im Sommer 1920 Mitglied im "Deutsch-völkischen Schutz- und Trutzbund", dem "ersten faschistischen Verband Deutschlands". Der Kampf gegen "die bolschewistische Gefahr" war hier eng verknüpft mit einem radikalen Antisemitismus, den Niemöller und seine Frau Else emphatisch teilten.

Im März 1921 beteiligte sich der einstige U-Boot-Kommandant an der Gründung einer Münsteraner Ortsgruppe des antisemitischen "Nationalverbands Deutscher Offiziere", in dessen Ehrenrat er im November des Jahres gewählt wurde. Auch im "Bund der Aufrechten", der gegen die Weimarer Reichsverfassung und für eine Restauration der Hohenzollernmonarchie kämpfte, war Niemöller aktiv. Die Teilnahme am Schusswaffentraining des paramilitärischen "Westfalenbunds" zeigt seine Bereitschaft, den Kampf gegen die politische Linke auch mit Waffengewalt auszutragen.

Niemöller verstand sich als Repräsentant des Linksprotestantismus

Als sich nach dem Kapp-Putsch im Herbst 1920 sozialistische Arbeiter im Ruhrgebiet bewaffneten und in der "Roten Ruhrarmee" organisierten, baute Niemöller ein Bataillon der "Akademischen Wehr" antirepublikanischer Münsteraner Korps-Studenten auf und zog als Kommandant eines weiteren Bataillons Richtung Ruhrgebiet, um in der Nähe von Lünen eine Zeche zu besetzen.

In den Fünfziger- und Sechzigerjahren wurde Niemöller als Stellvertretender Vorsitzender des Rates der EKD und als langjähriger Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau zu einem der einflussreichsten, aber auch umstrittensten Vertreter jenes politischen Protestantismus, der mit großer moralischer Vehemenz die Gründung der Bundesrepublik, Adenauers Politik der Westintegration und die Wiederbewaffnung bekämpfte. Seit 1954 verstand sich der gern mit Unbedingtheitspathos argumentierende Repräsentant des Linksprotestantismus als Pazifist, der sich um der erhofften Einheit der Nation willen auch von kommunistisch gesteuerten Organisationen für eine Politik der Neutralität Deutschlands in Anspruch nehmen ließ. Immer wieder warf er den Deutschen vor, ihre Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus zu verdrängen. Seine eigene Mitschuld aber und speziell seinen zunächst biologistisch begründeten Hass auf die Juden machte der Theologe, der seit Herbst 1933 zwar gegen die Übernahme des staatlichen "Arierparagrafen" in das kirchliche Dienstrecht kämpfte, aber an einer sozial-kulturellen Judenfeindschaft festhielt, niemals zum Thema.

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Quelle:
SZ vom 11.04.2019
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