Ein Aufsatz:Schlank & frech

Literatur besteht nicht nur aus Büchern. Auch Broschüren gehören dazu, billig gedruckt, zu schnellem Lesen in Umlauf gebracht.

Von Lothar Müller

Ein Buch ist ein Buch ist ein Buch. Nein. Ist es nicht. Ein Buch ist ein Hardcover oder ein Taschenbuch oder ein E-Book. Und mit sich allein ist es auch nicht. Es ist umgeben von einer Fülle ephemerer Druckschriften, die nur deshalb in den Literaturgeschichten ein Schattendasein führen, weil der landläufige Begriff vom "Gutenbergzeitalter" so hoffnungslos buchfixiert ist. Sehr willkommen sind deshalb Expeditionen in "die Ozeane grauer Literatur", wie sie jetzt Jan-Frederik Bandel und Georg Stanitzek unternehmen. (Broschüren. Zur Legende vom ,Tod der Literatur'. In: Bleiwüste und Bilderflut. Herausgegeben von Caspar Hirschi und Carlos Spoerhase. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2015).

Elegant erledigen sie die Legende, es sei 1968 zum "Tod der Literatur" aufgerufen worden. Es ging vielmehr, so ihre Gegenthese, um eine Aufbruchsbewegung der Literatur, um die Aufkündigung ihres Bündnisses mit der Dauer oder gar Ewigkeit, um ihre Verjüngung und Verschlankung in provisorischen, billig herstellbaren Formaten, die für das Ziel der raschen Verbreitung in hoher Auflage auf die dauerhafte Überlieferung verzichteten. Als Apokalypse der Literatur konnte diese Aufbruchsbewegung nur erscheinen, weil das Buchformat, von dem sie sich absetzte, mit der Literatur selbst verwechselt wurde.

Es ist bekannt, dass der Aufschwung des Taschenbuchs seit den Fünfzigerjahren zu den medialen Voraussetzungen für die Publikations- und Lesekultur um 1968 gehörte. Hans Magnus Enzensberger hat 1958 in seinem Essay "Bildung als Konsumgut" diesen Aufschwung kommentiert. Bandel und Stanitzek fügen nun dem etablierten Gegenüber von Buch und Taschenbuch den oft übersehenen Dritten hinzu: die Broschüre. In Enzensbergers Essay war sie als "aktuelle Flugschrift" aufgetaucht, als "neues Instrument, das mit großen Auflagen und kurzen Fristen arbeitet".

Flugschrift, Libell, Heft, Heftchen und Volksbüchlein gehören zusammen. Die Flugschriften sind von den Religions- und Bauernkriegen des 16. Jahrhunderts über die Französische Revolution bis 1848 als Formate der "Aufklärung und Propaganda" attraktiv. Ihnen tritt die "Broschüre" nicht erst 1968 an die Seite: als in Papier oder Pappe gefalzte, geheftete, geklebte oder getackerte "Druckschrift geringeren Umfangs", die rasch herzustellen ist und wenig Lagerkosten verursacht. Von Rosa Luxemburgs "Junius-Broschüre" (1916) über Walter Benjamin, der 1928 die "unscheinbaren Formen" zur "universalen Geste" des Buches in Konkurrenz treten lässt, und den "Broschürenkrieg" zwischen den beiden deutschen Staaten im Kalten Krieg führt der Weg in die Labyrinthe des Ineinander von Raubdruck und Broschüre um 1968 und zu Verlagen wie Merve und Maro. Vom forciert Billigen und Trashigen spannt sich das Spektrum bis zu den von Bernward Vesper erfundenen und von Christian Chruxin markant gestalteten "Voltaire Flugschriften", mit Autoren wie Peter Weiss, Jean-Paul Sartre, Heinrich Böll. Aber die Broschüre war nicht per se "subversiv", nicht nur "Medium der spontanen Intervention, des schnellen Witzes", sie trug auch "ein unheimliches Moment ins Zentrum der Protestbewegung": den Umschlag des Antiautoritäten ins Autoritäre.

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