Susan Sontag ist nicht nur ein Popstar der Kulturwissenschaft, sie ist deren Heilige. Und das nicht obwohl, sondern gerade weil ihr Denken im Wortsinne radikal ist. Insofern trifft es der Titel des Bandes, den Anna-Lisa Dieter und Silvia Tiedtke gerade herausgegeben haben, ganz gut: "Radikales Denken. Zur Aktualität Susan Sontags" (Diaphanes Verlag, Zürich 2017. 288 Seiten, 29,95 Euro) versammelt Aufsätze unter anderem von Elisabeth Bronfen, Carolin Emcke, Michael Krüger und Thomas Meinecke.
"Was jede kennt, aber keine bislang öffentlich bedacht hat, findet Eingang in ihre Essays", heißt es im Vorwort der Herausgeberinnen. Das beschreibt nicht nur Sontags Haltung und Herangehensweise, sondern auch die des Bandes selbst. Er speist sich aus einem Symposium, das im Herbst 2014 in den Münchner Kammerspielen stattfand. Der Konzeption und dem Ort dieser Veranstaltung ist es zu verdanken, dass es gelungen ist, den akademischen Diskurs durch künstlerische Interventionen und den Dialog mit dem Publikum aufzubrechen und zu bereichern.
Hartwig entlarvt den Mythos der Reproduktionsmedizin als Kinderwunschmaschine
Wie die Autorinnen und Autoren im Nachgang des Symposiums nun in ihren Aufsätzen die Radikalität in Sontags Denken freilegen, ist in seinen unterschiedlichen Facetten lesenswert. Besonders gelungen in dem Text, den Ina Hartwig beisteuert und der sich dem Mythos Susan Sontags widmet. Hartwig seziert Sontags Heiligsprechung mit deren eigenem theoretischen Instrumentarium. So legt sie das Schroffe frei, das dem Mythos dieser Frau schon abgeschliffen zu sein schien.
Hartwig schreibt unter dem Titel "Reproduktionsmedizin als Metapher" über Bilder von Geburt und Tod - und zwar vor allem über solche, die Sontags Lebensgefährtin Annie Leibovitz in den letzten Jahren und Monaten vor Susan Sontags Tod aufgenommen hat. Gegengeschnitten werden diese mit Fotos von Leibovitz' Tochter Sarah. Hartwig webt in ihrem Text einen Faden zwischen Geburt und Tod, zwischen Sarah und Susan. In der Engführung zwischen Sontags Kampf ums Überleben und dem mitunter politischen Kampf um künstlich gezeugtes Leben gelingt es Hartwig, Sontags Denken und Leibovitz' fotografische Arbeiten in einen produktiven Kontrast zu setzen. Die zwei Seiten des Versprechens der Medizin begegnen sich, als Susan Sontag, als alte Frau, das künstlich gezeugte Kind in ihren Armen wiegt.
In Ableitung von Sontags 1977 erschienenem Essay "Krankheit als Metapher" setzt Hartwig sich mit der "Reproduktionsmedizin und ihren Metaphern von Krankheit, Wunscherfüllung, Optimierung, Ablehnung und Überhöhung" auseinander. Also mit Privatem, das öffentlich wird. Dass dieses Thema provoziert, beweist nicht nur die inzwischen drei Jahre zurückliegende Auseinandersetzung zwischen den Schriftstellerinnen Sibylle Lewitscharoff und Judith Schalansky. Schalansky schrieb damals, sie sei gerade dank künstlicher Befruchtung schwanger und schleuderte dieses Bekenntnis Lewitscharoffs Rede vom künstlich gezeugten Kind als "Halbwesen" entgegen.
Hartwig geht von diesem Streit aus und widmet sich der Scham und den Schuldgefühlen, welche die Möglichkeiten der modernen Medizin mit sich bringen. Sie verwebt diese Problematik mit jenen Gedanken, die Sontag in "Krankheit als Metapher" über Krebs und Aids darlegt. Und schafft es so, den Mythos der Reproduktionsmedizin als Kinderwunschmaschine zu entlarven und gleichzeitig der Inszenierung Susan Sontags in Leibovitz' fotografischem Werk auf den Grund zu gehen.
Besonders eindrücklich wird diese doppelte Bewegung in Hartwigs Betrachtung des Fotos, das Leibovitz von Sontags Leichnam aufgenommen hat und das in ihrem Buch "A Photographer's Life. 1990-2005" enthalten ist. Das Foto ähnelt Holbeins Gemälde des toten Christus. Indem Leibovitz den Leichnam ihrer Freundin ausstellt, stilisiert sie diese zur Heiligen: "Heilung war nicht mehr möglich; was bleibt, ist Heiligung", schreibt Hartwig. Obwohl sie betont, dass man Leibnovitz' fotografische Inszenierung nicht mögen müsse, lässt sie sich doch von ihr faszinieren. So zeigt der Aufsatz, was den Herausgeberinnen zufolge für Sontags Schreiben gilt: "Sich für die Werke anderer zu begeistern, ist ein schöpferischer Akt."