Süddeutsche Zeitung

Ein Aufruf von Schriftstellern für Billers "Esra":Freiheit, die wir meinen

Zwei Frauen glaubten, sich in Maxim Billers Roman "Esra" porträtiert zu sehen. Sie zogen vor Gericht und klagten. Dieser Klage wurde stattgegeben. Nun haben die beiden nachgelegt: Sie verklagen jetzt den Autor und seinen Verlag auf 100.000 Euro Schmerzensgeld - für ein nie erschienenes Buch.

100 Schriftsteller

Zwei Frauen meinten sich, wir erinnern uns, in Maxim Billers Roman ¸¸Esra" wiedererkannt zu haben. Sie zogen daraufhin vor Gericht und klagten. Ihrer Klage wurde stattgegeben: ¸¸Esra" durfte nicht mehr erscheinen. Die Verlagswelt nahm dieses Urteil, das die Kunstfreiheit erheblich einschränkt, mit Entsetzen zur Kenntnis. Groß ist die Sorge, dass künftig ständig Werke der Fiktion vor den Richter gezerrt werden. Nun haben vor kurzem die beiden Klägerinnen (SZ vom 24. Mai) nachgelegt: Sie verklagen jetzt den Autor und seinen Verlag Kiepenheuer & Witsch auf 100 000 Euro Schmerzensgeld. Am 9. August wird die entsprechende Verhandlung am Münchner Landgericht stattfinden. Nun setzen sich hundert prominente Figuren der Kulturwelt mit einem Aufruf, den wir abdrucken, für Billers Buch und die Freiheit der Kunst ein. SZ ¸¸Esra" ist ein verbotenes Buch. Es wird nicht vertrieben, nicht verkauft, es wird also auch nicht gelesen. Und das heißt, dass es ¸¸Esra" gar nicht gibt.

Zwei Frauen haben gegen Maxim Billers Roman geklagt, weil sie, einerseits, sich wiederzuerkennen glaubten. Und andererseits fanden sie sich nicht richtig, nicht wahrheitsgetreu beschrieben. Die Gerichte haben ihnen durch alle Instanzen, bis hinauf zum Bundesgerichtshof, Recht gegeben.

¸¸Esra" ist also verboten: erstens, weil die Klägerinnen darin vorkommen. Und zweitens, weil sie es gar nicht sind. Protest, Entsetzen und Empörung angesichts dieser Urteile hielten sich in Grenzen - obwohl doch auch das Verbot von Alban Nikolai Herbsts Roman ¸¸Meere" beweist, dass solche Verfahren jedem drohen, der sein Leben als Material für seine Literatur verwendet. ·

Jetzt, mehr als drei Jahre nach dem Verbot des Buchs, klagen die beiden Frauen auf Geldentschädigung. Maxim Biller und sein Verlag sollen zusammen mindestens 100 000 Euro bezahlen. So hoch also soll der Schaden sein, den angeblich ein Buch angerichtet hat, das doch niemand kaufen, niemand lesen kann. Ein Buch, das gar nicht existieren darf.

100 000 Euro: Das ist eine Summe, welche, wenn er sie zahlen müsste, nicht nur Maxim Biller ruinieren würde. Es wäre der Ruin der Literatur, es wäre der Bankrott der Kunstfreiheit, wenn künftig jeder, der sich in einem Werk der Fiktion wiederzuerkennen glaubt, auf Schadensersatz klagte. Statt der Lektoren wären die Anwälte die ersten Gegenleser, statt um Qualität ginge es nur noch um Unangreifbarkeit. Wer ein Buch veröffentlichte, riskierte den Ruin. Und die Literatur, die wäre der Schädling, welchen man bekämpfen muss. Unter solchen Bedingungen hätten weder ¸¸Die Leiden des jungen Werthers" noch die ¸¸Buddenbrooks" erscheinen können. Soweit darf es nicht kommen.

Der Deutsche P.E.N., der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und der Verband deutscher Schriftsteller (VS) haben sich gegenüber dem Bundesverfassungsgericht gegen ein Verbot des Buches ausgesprochen. Die hier Unterzeichnenden schließen sich deren Meinung und Urteil an.

Herbert Achternbusch, Adriana Altaras, Christian Ankowitsch, Jakob Arjouni, Heinz-Ludwig Arnold, Jakob Augstein, Imran Ayata, Stefan Bachmann, Rufus Beck, Iris Berben, Sibylle Berg, Senta Berger, Marcel Beyer, Günter Blamberger, Marica Bodrozic, Luc Bondy, Jörg Bong, Henryk M. Broder, Micha Brumlik, Jörg Bundschuh, Else Buschheuer, Neco Celik, Peter Demetz, Eva Demski, Helmut Dietl, Jutta Ditfurth, Christian Döring, Dieter Dorn, Freimut Duve, Jenny Erpenbeck, Michael Farin, Wolfgang Ferchl, Michel Friedman, Werner Fritsch, Peter Glaser, Günter Grass, Axel Hacke, Nikolaus Hansen, Miklos Haraszti,· Jakob Hein, Felicitas Hoppe, Elfriede Jelinek, Michael Jürgs, Barbara Kalender, Wladimir Kaminer, Daniel Keel, Gina Kehayoff, Daniel Kehlmann, Birgit Kempker, Armin Kratzert, Helmut Krausser, Andrian Kreye, Michael Krüger, Michael Kumpfmüller, Shermin Langhoff, Elena Lappin, Georg Lentz, Dani Levy, Charles Lewinsky, Joachim Lottmann, Bernd F. Lunkewitz, Thomas Meinecke, Eva Menasse, Robert Menasse, Klaus Modick, Ivan Nagel, Albert Ostermaier, Thomas Ostermeier, Georg M. Oswald, Volker Panzer, Armin Petras, Elisabeth Plessen, Minka Pradelski, Fritz J. Raddatz, llma Rakusa, Elisabeth Ruge, Rüdiger Safranski, Frank Schätzing, Denis Scheck, Roland Schimmelpfennig, Robert Schindel, Christoph Schlingensief,· Eckhart Schmidt, Ingo Schulze, Jörg Schröder, Susanne Schüssler, Tilman Spengler, Benjamin v. Stuckrad-Barre, Uwe Timm, Helge Timmerberg, Anne Tismer, Idil Üner, Joachim Unseld, Moritz von Uslar, Günter Wallraff, Rainer Weiss, Joseph von Westphalen, Alexander Wewerka, Michael Wolffsohn, Peter Zadek, Feridun Zaimoglu, Juli Zeh.

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Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.168, Montag, den 24. Juli 2006
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