Süddeutsche Zeitung

Ehec: Renaissance von Fertiggerichten:Ans Eingemachte

War in den letzten Jahren Frische der zentrale Wert der Gesundheitswelle und der Promi- und Fernsehkochwelt, dürfen wir nun wieder ohne Skrupel "Schlemmerfilet à la Bordelaise" und andere Convenience-Food-Klassiker goutieren. Wie die Ehec-Angst den Geschmack der Wirtschaftswunderjahre zurückbringt.

Johan Schloemann

Und plötzlich sieht der Speiseplan einer aufgeklärten, kochfreudigen Mittelklassefamilie so aus: Fertigsuppe aus der Dose; Reisgericht mit Iglo-Pfannengemüse aus der Tiefkühltruhe; Fruchtkompott aus dem Glas. Wo gerade noch das mediterrane Gemüsekochbuch mit Waren aus regionalem Anbau rauf- und runterexerziert wurde - Pastinaken mit Pecorino und Schnittlauch und so weiter -, dort erweist sich der Nudelauflauf mit Konserventomaten statt mit frischen Tomaten als, mmm, erstaunlich aromatisch.

"Schmeckt's?", fragt sich die Familie - und mag die Antwort selber kaum hören. Und statt Rummantschen auf dem Bauernhof zur Abwehr zivilisationsbedingter Allergien heißt es jetzt wieder wie bei Oma: "Hände waschen!"

Die Angst vor den Ehec-Keimen hat in Deutschlands sonst so offenen Küchen eine bemerkenswerte Wirkung: Es ist ein backlash, der im technischsten Sinne des Wortes konservativ ist - eine Rückwärtsbewegung zum Eingemachten und Eingefrorenen.

Denn eigentlich ist ja Frische der zentrale Wert der Gesundheitswelle der letzten zwei, drei Jahrzehnte sowie der ganzen Promi- und Fernsehkochwelle der letzten Jahre: eine unverpackte, natürliche, erdklumpenbehaftete Frische, welche den industriellen Charakter der westlichen Lebensmittelproduktion unsichtbar machen und sich vom Einkaufskorb auf den essenden Menschen übertragen soll, der ohne Zusatzstoffe frischer lebt und frischer aussieht.

Wie in anderen Warensegmenten, so soll auch bei den Lebensmitteln der Geschmack der Massenherstellung durch den Geschmack des individuellen, des guten alten Handwerks ersetzt werden, und die ländliche Frische ist der Garant dafür.

Ein seltsam gemischtes Gefühl

Nun aber, im Banne des gefährlichen Darmerregers, stellt sich ein seltsam gemischtes Gefühl bei den Mittelklassekindern der Wirtschaftswundergeneration ein. Zum einen ist da das schlechte Gewissen, aus hygienischen Gründen selbst all die abgepackten und vorbereiteten Massenprodukte wieder auf den Tisch zu holen, von denen man sich ja bewusst verabschiedet hatte - ebenjene Fertiggerichte, die man sonst gerne den eigenen Familien ausredet und den Kindern aus ärmeren Verhältnissen bei Schul-Aktionstagen abzuerziehen bemüht ist.

Zum anderen jedoch ergreift die unfreiwilligen Konserven- und Tiefkühl-Esser in diesen Tagen eine ganz ungeahnte Wonne, eine unabweisbare kulinarische Nostalgie. Denn am Gaumen, wo sonst ausgesuchte Rohwaren nachhaltige Geschmacksexplosionen auslösen, verspüren wir nun die Erinnerung an die bundesrepublikanische Nachkriegsküche der Eltern - an jene Zeit von den fünfziger bis mindestens zum Ende der siebziger Jahre nämlich, als die unfrischen Lebensmittel noch nicht böse waren, sondern einfach nur modern.

Denn was gab es damals im Zuge des Fortschritts nicht alles für pampige Schweinereien: Fischstäbchen; Champignons, Erbsen oder Ravioli aus der Dose; Tiefkühl-Pizzabaguette; Schmelzkäseecken; Perlzwiebeln und Cocktailkirschen; Kondensmilch; Pulverpudding und Götterspeise!

Die Ehec-Ansteckung ist furchtbar, und man kann nur wünschen, dass sie so schnell wie möglich abebbt; in der Wartezeit aber können wir mal nach Jahren wieder ohne Skrupel ein "Schlemmerfilet à la Bordelaise" aus der Aluminiumschale goutieren - den Convenience-Food-Klassiker, der 1969 mit durchschlagendem Erfolg auf den Markt gebracht wurde, im selben Jahr, als die Werbefigur "Käpt'n Iglo" das Licht der Welt erblickte.

Keimfreie Tiefkühlkost und Konserven führen uns jetzt ungewollt anschaulich den kulturhistorischen Wandel vor Augen, den wir schrittweise vollzogen haben. Nach dem Krieg stand neben dem industriellen Arbeitsplatz die industrielle Speise für die Überwindung des Mangels, für die Verbindung provinzieller Friedlichkeit mit Massenwohlstand nach amerikanischem Vorbild.

In dem 1000-seitigen Roman-Epos "Vorabend" des Alltagschronisten Peter Kurzeck, gerade von der Kritik gefeiert, wird die Anschaffung eines Kühlschranks mit Gefrierfach zu einem entscheidenden Moment der Anbindung einer oberhessischen Kleinstadt an die Supermarkt-Lieferketten auf den Autobahnen.

Legendär ist eine der realsatirischen Reden des Bundespräsidenten Heinrich Lübke aus den sechziger Jahren, in der er "die Fische aus den Truhen" den "etwas angegangenen" vorzuziehen empfahl und mit den Worten endete: "Ich muss sagen, wer das sich nebeneinanderhält, der kann überhaupt keine andere Wahl ... wählen ... Ohne die Tiefkühlketten werden wir uns späterhin nicht mehr die Ernährung verbessern können."

Der Siegeszug der Tiefkühlkost begann in Westdeutschland mit der Allgemeinen Nahrungs- und Genussmittelausstellung in Köln (Anuga) des Jahres 1955. Zur gleichen Zeit schlugen Kochbücher "für die eilige Hausfrau" Kreationen aus Konserven vor, und der Fernsehkoch Clemens Wilmenrod machte Furore.

Garantiert Ehec-frei!

Wilmenrod machte den "Toast Hawaii" mit Dosenananas und Scheiblettenkäse populär; das Hauptgericht seiner ersten Sendung, die 1953 vom NWDR ausgestrahlt wurde, war gebratene Kalbsniere mit Konserven-Mischgemüse. 1959 eröffnete in Frankfurt das erste "Maggi-Kochstudio". All diese Köstlichkeiten waren garantiert Ehec-frei!

Während die Fertiggerichte-Industrie in den unteren Einkommensschichten und in der Single-Gesellschaft zwar auch heute real expandiert, ist solche Ernährung in den frischeliebenden Mittelschichten sowie im öffentlichen Bild der Kochbücher und Kochsendungen immer mehr geächtet. Diese gesellschaftliche Ächtung ist jetzt aufgehoben, bis der Erreger Ruhe gibt. Und dann sind sie auch wieder vorbei, diese seltsam nostalgischen Ferien vom gesunden Essen.

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Quelle:
SZ vom 07.06.2011/pak
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