Süddeutsche Zeitung

Egon Christian Leitners Sozialstaatsromane:Verschwörung zum Besseren

Lesezeit: 5 Min.

Egon Christian Leitner glaubt unverbrüchlich an das Gute im Menschen. "Ich zähle jetzt bis 3 und dann ist Frieden" ist bereits die dritte Lieferung seines Sozialstaatsromans. Auf so ein Buch hat man in der Tat gewartet.

Von Burkhard Müller

Ein derart dickes Buch stimmt immer erst mal skeptisch. Es erhebt Ansprüche auf unsere Zeit und muss sich darum, noch ehe man es aufschlägt, die Frage gefallen lassen, ob es das auch wert sei. Zumal wenn es den eher ungeduldigen Titel trägt "Ich zähle jetzt bis 3 und dann ist Frieden". Der Leser hingegen zählt bis 1043, denn so viele Seiten hat es. Wäre das nicht auch kürzer gegangen?

Im Fall von Egon Christian Leitners Buch muss man, nachdem man durch ist, fairerweise sagen: Nein, wäre es nicht. Dieses Buch wächst mit der Lektüre; was eine andere Art ist zu sagen, dass auch der Leser und die Leserin mit dem Buch wächst. Es versteht sich als "Sozialstaatsroman", und zwar als dessen bereits dritten Teil. Eigentlich aber ist es ein Tagebuch (ohne genaue Daten allerdings). Dazu kommt im ersten Teil eine Anzahl von "Interventionen", im Wesentlichen eine Reihe von Vorträgen zum Thema einer gesellschaftlichen Ordnung, die auf dem primären Wohlwollen der Menschen untereinander fußt, den institutionellen Rahmen aber für unerlässlich hält. Der Vortragende verlangt eine zweite Chance für das schon einmal knapp gescheiterte Volksbegehren, das den Sozialstaat als Verfassungsziel verankern soll. Längen und Wiederholungen lassen sich dabei kaum vermeiden. So tritt das Buch seinen Weg sozusagen auf dem linken Fuß an. Es empfiehlt sich für den weiteren Fortgang Geduld - eine Geduld, die schließlich belohnt wird.

Trotz seiner unhandlichen Gestalt war dem Buch und seinem Autor ein großer Erfolg beschieden. Es scheint ein Bedürfnis zu befriedigen, auf das wenige bisher geachtet haben, nämlich das nach einem unaufgeregten, persönlich grundierten und verantworteten Humanismus. Eine Szene in der Straßenbahn, wo ein Kontrolleur einen ausländischen Fahrgast, der die Situation nicht kapiert, maßregelt und das Publikum Stellung bezieht (übrigens anders als erwartet), interessiert ihn weit mehr als die österreichische Innenpolitik als solche.

"Menschen" sagt er, wenn er meint, was sie sind, "die Leut'" im Hinblick auf ihr bedauerliches Verhalten

In gewisser Hinsicht kehrt Leitner, ohne wirklich das Verfahren zu ändern, das ungedeckte hasserfüllte Meinen, Behaupten und Agitieren in den Blogs und sozialen Medien inhaltlich ins Gegenteil um, indem er ebenso ungedeckt das Gute im Menschen voraussetzt. Leitner ist sozusagen ein umgestülpter Verschwörungstheoretiker. Haltlos glaubt er daran, dass überall, wo sich nur die geringste Gelegenheit bietet, spontan eine Verschwörung der Menschen zum Besseren zustande kommt und sie einander helfen. Er sagt zum Beispiel ganz schlicht: "Was die Menschen miteinander reden, muss so sein, dass es sie beschützt." Stimmt das denn? Allerdings. Es ist so wahr, dass keiner es sich in dieser Form zu sagen traut, aus Angst, er würde als edler Tor belächelt. Leitner aber sagt es, und darin liegt ein Verdienst. "Menschen" sagt er, wenn er meint, was sie sind, "die Leut'" jedoch im Hinblick auf ihr öfters bedauerliches Verhalten. Zum "Gutmenschen" im verpönten Sinn wird er aber nicht: Denn beim Guten denkt er wirklich an Güte und nicht an das, was man selbst zu haben gewiss ist, während es dem anderen tadelnswerterweise abgeht.

Es findet sich wenig Privates im engeren Sinn, kaum auch nur Namen, selbst seine Frau ist einfach "meine Frau". Dennoch stellt sie mit ihrer klugen und humorvollen Art ein dankbar angenommenes Korrektiv für den Autor dar, wo er zu Übertreibung und Schrulle neigt. Eher am Rande erfährt man, dass er Herzprobleme hat und wegen eines von ihm offenbar schlecht verwalteten Betriebs auf dem Lande in bedrohlichen finanziellen Schwierigkeiten steckt. Aber auch, dass es mindestens zwei Menschen gibt, den schüchternen einsamen Vietnamesen und den verbockten Obdachlosen (einer von jener Sorte, der man angeblich nicht helfen kann, weil sie sich nicht helfen lassen), die er als die Seinigen betrachtet und um die er sich so unaufdringlich wie beharrlich kümmert.

"Denken ohne Geländer" - diese Formel von Hannah Arendt gefällt ihm. Und sie hat ja auch was für sich, wenngleich man beim Lesen zuweilen den Eindruck hat, angesichts so vieler Steilkanten und starker Böen wäre ein Etwas zum Festhalten nicht verkehrt. So kommt es zu Abstürzen. ",Ich weiß, dass ich nichts weiß', hat Sokrates nie und nimmer gesagt. Der wäre ja blöd gewesen!" Statt dass er es nachschaut und bei der Gelegenheit gleich auch mal den Zusammenhang des berühmten Diktums erkundet, lässt er sich von seinem Impuls mitreißen.

Leitner formuliert auch darum so gern ins Ungesicherte hinein, weil, was wie monologische Rechthaberei aussieht, in Wirklichkeit ein Angebot zum Dialog bedeutet: Der andere, der zufällig auf der Straße getroffene Gesprächspartner, soll zur Gegenrede bewegt werden. Hierin eignet Leitner nun doch etwas sehr Sokratisches, auf die sokratische Ironie, die insgeheim schon vorab alles besser weiß als das überrumpelte Gegenüber, verzichtet er allerdings, was ihn sympathischer macht als den alten Griechen. "Warum sagen jetzt alle Zivilgesellschaft statt APO? Mich nervt bei denen eh alles, aber trotzdem! Warum auch das noch!" Das reicht so noch keineswegs aus; soll es aber auch nicht.

Lieber Herr Leitner, möchte man ihm erwidern, denn er hält, bei allem Entgegenkommen, nichts vom Duzen unter Fremden, Sie sagen es, weil Sie heimlich von der APO zur Zivilgesellschaft übergelaufen sind, die nur so tut, als wäre sie dasselbe. Die sogenannte Zivilgesellschaft mit ihrer vielbeschworenen Zivilcourage verkörpert in Wahrheit jene Macht, gegen die sie zu opponieren vorgibt, und geht nicht los aufs Zentrum, sondern auf krasse Außenseiter. So ist es jedenfalls in neun von zehn Fällen. Bis zu diesem Punkt freilich gelangt Leitner nicht, wenigstens hier nicht, denn er kommt an verschiedenen Stellen unterschiedlich weit. Aber bis ungefähr dahin bringt er den sich wundernden oder ärgernden Leser, indem er den Energien, die er in ihm entfacht, implizit die Richtung weist, in der sie fruchtbar werden könnten. Leitner fordert uns zwei Dinge ab, die viel zu selten verlangt werden: Widerspruch und Weiterdenken.

Er beschäftigt sich mit vielen Dingen, die miteinander nicht viel zu tun zu haben scheinen, die er aber unbefangen als seine Erlebnisse bucht. Es ist eine wilde Bildung, die er pflegt, von ihm selbst auf den Namen der "Pataphysik" getauft, den er dem französischen Proto-Surrealisten Alfred Jarry entlehnt. Sein fast hundertseitiges Register, das dem Alphabet eine ordnend-chaotische Kraft entbindet, liest sich selbst schon wie ein pataphysisches Kunstwerk: Es folgen hier in rascher Sukzession "kaputt im Hirn", "Kathedrale von Chartre" (dass er verkehrt schreibt und gerade so bezeugt, dass sein Werk aus mentaler Präsenz herkommt und nicht aus Akten des Nachschlagens), "Katze", "Kebabladen", "keiner soll hungern, keiner soll frieren". "Arschloch" bringt es nur auf einen Verweis, "Arzt, Ärztin" hingegen, gleich danach, auf 74 - das Granteln wird weit überwogen vom Nachdruck auf der systematischen, der sozialstaatlichen Hilfe. Zu "Gewalt", "Gott", "Liebe", "Selbst" und "Österreich, -er*in" heißt es "passim", überall, denn diese fünf Vokabeln sind der Grundbass, zu dem im Wechsel sämtliche anderen Themen erklingen.

Lieber Herr Leitner, Sie wissen nicht, wie man ein Buch macht, möchte man ihm auf Anhieb zurufen. Aber je weiter man sich hineinvertieft, desto mehr erkennt man, dass hier noch etwas anderes von zwei Deckeln zusammengehalten wird als das, was konventionellerweise als ein Buch gilt. Leitner weigert sich, es auf den Begriff zu bringen, wohl wissend, dass dieser die Sache töten muss, weil er sich so leicht pflücken und als Blume ins Knopfloch der Sonntagsreden stecken ließe.

Die aktive Humanität, die er meint, lässt sich, damit sie bleibt was sie ist und nicht ins unverbindlich Himmelblaue verlorengeht, nur als Verlauf und im Gespräch und also indirekt mitteilen, und darum kommt sie an kein Ende. Getrost darf man auf die Fortsetzung warten. An Stoff und Meinung wird es ihr nicht fehlen. Und denen wird Leitner ganz bestimmt wieder eine starke, anarchische Form zu geben wissen.

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