Literatur:Ein großer Roman des zwanzigsten Jahrhunderts

Literatur: Sie war eine der neuen Stimmen in den letzten Jahren der Weimarer Republik: Die Schriftstellerin Gabriele Tergit.

Sie war eine der neuen Stimmen in den letzten Jahren der Weimarer Republik: Die Schriftstellerin Gabriele Tergit.

(Foto: Schöffling Verlag)
  • Lange war Gabriele Tergits 1951 erschienener Gesellschaftsroman "Effingers" vergriffen, nun ist er neu verlegt worden.
  • Das Buch ist ein Panorama des jüdischen Bürgertums im Berlin der Vorkriegsjahrzehnte.
  • "Effingers" wurde immer wieder einmal als "jüdische Buddenbrooks" bezeichnet - aber das stimmt höchstens halb.

Von Jens Bisky

Bankier Oppner hat sich ein Haus gekauft, obwohl seine Frau dies nicht wollte. Sie ist gegen Umzug, "immer für das Einfache". Zwanzig Jahre hat die Familie in der Berliner Klosterstraße gewohnt, da könne man doch bleiben. Nein, findet der Bankier, er müsse repräsentieren, schon der Töchter wegen. Doch seine Tochter Annette, eine "schöne Achtzehnjährige", ist vom hellgrauen Haus im Berliner Tiergartenviertel, dem Wohnbezirk des Reichtums, nicht begeistert: Wenn die Eltern, statt eine moderne Villa mit Türmchen und Erkern zu bauen, "ein solch altmodisches Haus kauften", dann "müssten sie wenigstens alles dunkel und behaglich streichen lassen, statt so kalt und unfreundlich hell".

So geschieht es, Maler und Tapezierer rücken an und der klassizistisch kühlen Heiterkeit zu Leibe. Ein "Watercloset" wird eingebaut, mit englischem Wappen in den Schüsseln: "Dieu et mon droit!". "Keen lieber Gott mehr, aber Wasserspülung. Das ist die neue Zeit!", sagt ein alter Malermeister. Das Haus erfüllt seinen Zweck, verführt den jungen, neuberliner Fabrikanten Karl Effinger, sich Bilder eines eleganten Lebens auszumalen, und so heiratet er die schöne, sehr moderne Annette, die glaubt, dass man "gar nichts davon hat, wenn man sich verliebt". Sie wolle es einmal sehr gut haben. Bald bekommt sie eine Wohnung am Kurfürstendamm.

Um dieses Haus, seine Bewohner und Gäste, um eine untergegangene, vernichtete Welt kreist Gabriele Tergits Roman "Effingers". Hier führt sie drei Familien zusammen: die Goldschmidts, die Oppners und die Kinder des Uhrmachers Effinger aus der fiktiven Residenzstadt Kragsheim. Tergit verarbeitete viel aus der eigenen Familiengeschichte und hatte beim Schreiben das Haus der Großeltern ihres Mannes in der Viktoriastraße vor Augen. Auf dem Grundstück steht heute die Philharmonie.

Das muss man nicht wissen, um mit den Figuren des Romans vertraut zu werden. Dafür sorgt die Kunst der Autorin. Tergit versteht es meisterinnenhaft, Lebenswelten, Geisteshaltungen, Umbrüche zu charakterisieren. Sie nutzt dafür beiläufige Bemerkungen, Gespräche, schildert Interieurs, Stoffe, Accessoires, lässt die kulturhistorischen Details sprechen. Den Geist der Gründerjahre etwa erfasst sie treffend im Zugleich von dunkler Behaglichkeit und Wasserspülung, eingebaut ins Haus, das ein bankrotter Bankier seinem glücklicheren Kollegen verkauft.

Ein Panorama der Berliner Geschichte zwischen Reichsgründung und Zerstörung der Stadt

Der Roman beginnt mit einem Brief des siebzehnjährigen Paul Effinger, der seinen Eltern 1878 vom "großen Aufschwung" berichtet. Er endet mit einem Brief des 81-jährigen Paul, geschrieben kurz vor der Deportation, in der Hoffnung auf wenigstens "einen schnellen Tod".

Dieser große Roman des zwanzigsten Jahrhunderts ist in vielem außergewöhnlich. Historisch glänzend informiert, aber nie belehrend vergegenwärtigt Gabriele Tergit ein Panorama der Berliner Geschichte zwischen Reichsgründung und Zerstörung der Stadt. Ihre Bankiers und Unternehmer sind, was selten ist in der deutschen Literatur, keine Karikaturen, vielmehr ehrliche, irrende, mehr oder weniger gescheite Geschäftsleute.

"Effingers" ist ein Buch voller Liebe, die auf ganz verschiedene Weise scheitert und sich in wenigen Fällen dennoch bewährt. Der liberale Jurist Waldemar, dem wegen seines jüdischen Glaubens eine akademische Karriere verwehrt ist, lässt seine große Liebe ziehen, als sich der Sängerin eine gute Partie an der Hand eines Adligen bietet und steht ihr bei, als sie verarmt, verzweifelt, beschämt vor seiner Tür steht. Der junge Ästhet Theodor - "Natur ist eine entfernte Bekannte von mir" - muss erst der romantischen Idee entsagen, sein Verhältnis zu ehelichen, heiratet eine alle begeisternde Schöne und resigniert schon in der Hochzeitsnacht, sie braucht keine Zuneigung, sucht nur Bewunderung. Und Marianne verehrt einen egoistischen ideologischen Wirrkopf. Erst arg revolutionär gestimmt, schwafelt er bald, die Juden seien doch ein anderes Volk und es brauche die "Auswerfung des fremden Elements", den Kulturverfall aufzuhalten. Die Frauen und ihre Versuche der Selbstbehauptung, ihre Ausbrüche aus den vorgeschriebenen Rollen nehmen einen ebenso großen Raum ein wie die Spannungen zwischen den Alten und den Jungen.

"Effingers" ist der Gesellschaftsroman einer Autorin, die von Theodor Fontane, Georg Hermann, Thomas Mann gelernt hat und den Witz einer Journalistin der Weimarer Republik mitbringt. Von den "jüdischen Buddenbrooks" wurde immer wieder einmal gesprochen, aber das stimmt höchstens halb. Tergit erzählt rascher, pointierter, wechselt in ihren 151 Kapiteln ständig Schauplätze und Perspektiven. Und dennoch: Obwohl dieser Roman klug gebaut und anschaulich erzählt ist, Kopf und Herz gleichermaßen beschäftigt, obwohl er - einen intelligenten Produzenten vorausgesetzt - geradezu nach der Verfilmung ruft, obwohl er viele Themen behandelt, die seit Jahren auf großes Interesse stoßen, obwohl dieser Berlin-Roman auch nach London, München, Heidelberg, Hamburg, Russland, Palästina und eben in die gute Provinzstadt Kragsheim führt, obwohl "Effingers" voller Anekdoten, abgekürzter Novellen, erhellender Beobachtungen steckt, ist dieses 1951 erstmals erschienene Buch noch immer vielen unbekannt.

Neue Stimmen der letzten Jahren der Republik: Irmgard Keun, Mascha Kaléko - und Gabriele Tergit

Das liegt vor allem an der Biografie der Autorin und wohl auch daran, dass Tergit die Verkitschung von Geschichte, die folgenlose Versöhnung durch Lektüre verweigert. 1894 als Elise Hirschmann geboren, arbeitete sie als Gerichtsreporterin für das Berliner Tageblatt, die liberale Zeitung schlechthin. 1931 erschien "Käsebier erobert den Kurfürstendamm", ein Kabinettstück über Feuilletonisten- und Spekulationswahn, die Gemeinsamkeiten von Kulturindustrie und Immobiliengeschäften.

Der Roman wurde ein Erfolg, Gabriele Tergit - wie Irmgard Keun oder Mascha Kaléko - eine der neuen Stimmen in den letzten Jahren der Republik. Als sie im März 1933 vor den Nationalsozialisten floh, hatte sie bereits mit der Arbeit an ihrem Familienroman begonnen.

Während die Juden entrechtet und ermordet wurden, während man ihren Chefredakteur Theodor Wolff ins KZ deportierte und immer neue Unheilsbotschaften eintrafen, schrieb sie weiter an diesem Buch. "In Dutzenden von Hotelzimmern, in Prag, Jerusalem, Tel Aviv und schließlich ab 1938 in London entstand dabei die Chronik einer untergegangenen Welt, die Tergit über alles geliebt hat", schreibt Nicole Henneberg im Nachwort. Ihr ist es zu verdanken, dass Tergit endlich ihre Leser finden kann. Den "Käsebier" und die Erinnerungen "Etwas Seltenes überhaupt" hat sie bereits im Schöffling-Verlag herausgegeben, in ordentlichen, nicht länger verunstalteten Textfassungen, mit kundigen Nachworten, hilfreichen Anmerkungen.

In der Nachkriegszeit hatten es die "Effingers" trotz freundlicher Kritiken schwer, weil die einen nichts über Juden und die anderen nur etwas über Juden als edle Menschen lesen wollten. Der Antisemitismus scheint im Roman zunächst ein Motiv unter anderen. Der älteste Effinger-Bruder geht nach London, weil er den Deutschen nicht traut, der Privatdozent Waldemar Goldschmidt, will nicht zum Christentum übertreten, weil dies "ein Kotau vor der Macht wäre".

Hier spricht, so der Eindruck, die Zeit selbst

Im Zionismus aber spürt er die Absage an seine Emanzipationsideale, ihnen, den preußisch-liberalen Patrioten würden die Zionisten "die Existenzberechtigung in Deutschland" absprechen. Tergit lässt auf die Diskussion über den "Judenstaat" den Auszug aus einer antisemitischen Broschüre deutscher Studenten folgen. Und dann sagt Erwin Effinger, einer aus der Enkelgeneration, am Telefon zu einem Bekannten: "Ich komme morgen Abend mit zu deinem zionistischen Abend." Ende des Kapitels.

Tergit arbeitet gern mit Kontrasten, harten Schnitten, setzt Szene an Szene im Vertrauen auf die Urteilskraft der Leser, deren Aufmerksamkeit sie lenkt, ohne ihnen Standardemotionen anzudienen, Gedanken vorzukauen. Sie schreibt für Emanzipierte, die der Vormundschaft durch eine Erzählstimme nicht mehr bedürfen. Grandios gelungen sind die Schilderungen von Geselligkeiten, Interieurbeschreibungen, Motivketten.

Regelmäßig folgen Tageskapitel: "Was für ein Frühlingstag, dieser Sonnabend im Mai 1930! Was für eine Süße, morgens um elf Uhr!" Als ziehe sie einen Vorhang weg, zeigt Tergit erst eine Vormittagsszene, dann eine Mittagsplauderei, dann Dreharbeiten von nachmittags bis mitternachts. Hier spricht, so der Eindruck, die Zeit selbst. Und die Ereignisse finden eine ihnen angemessene Form. Die Plaudereien über Essen, Stoffe, Theatersensationen im Kaiserreich erhalten längere Kapitel, größere Bögen als die Szenen aus der Inflationszeit.

"Ewiger Strom" sollte der Roman einmal heißen, was zu der Erfahrung, die Tergit schildert, nicht schlecht gepasst hätte. Ihre Protagonisten, so erfolgreich sie sein mögen, sind nicht Herren ihres Schicksals. Unkontrollierbar, kaum vorherzusehen, vollziehen sich wirtschaftliche und politische Entwicklungen. Der Handel belebt sich oder stockt, Preise fallen und steigen, Krieg und Inflation vernichten Vermögen, Sitten verändern sich, und dann beginnt der Triumph der Niedertracht. Und so dramatisch, beglückend oder verheerend die Einschnitte im Leben der Einzelnen sind, es geht immer "alles noch eine Weile weiter". Dem Roman stehen Goethe-Verse über des "Daseins unendliche Kette" voran. Der Epilog folgt wieder einem Frühlingstag, diesmal im Mai 1948: Trümmer, Tote, ein einziges Nicht-Mehr, aber die alte Frieda arbeitet im Garten und versucht es jetzt mit Mais.

Es gibt keinen anderen Roman, der wie dieses große Werk des Exils, das untergegangene Berlin und die Welt der jüdischen Berliner literarisch rettet. Er ist von einer verstörenden Wahrhaftigkeit. Wer ihn liest, schaut danach anders auf Straßen, Zimmer, Menschen.

Gabriele Tergit: Effingers. Roman. Mit einem Nachwort von Nicole Henneberg. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2019. 904 Seiten, 28 Euro.

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