Süddeutsche Zeitung

Edward Burtynsky: "Natural Order":Tief im Dickicht

Wo Edward Burtynsky, Fotograf der großen Naturzerstörung, doch noch menschenleere Landschaften fand.

Von Thomas Steinfeld

Das Grey County ist ein weitgestrecktes, von flachen Hügeln geprägtes Land in der kanadischen Provinz Ontario. Es befindet sich nah genug an Toronto, um an Wochenenden beinahe besiedelt zu wirken. Doch liegt es weit genug im Norden, um schon der Wildnis Platz zu gewähren. Dorthin zog es im März des Jahres 2020 den Fotografen Edward Burtynsky. Er wollte sich auf eine große Reise nach Afrika vorbereiten, auf eine Expedition, wie er schon etliche unternommen hatte, um zu dokumentieren, in welchem Maß die Welt den Belangen der industriellen Produktion unterworfen ist.

Aus der Reise wurde nichts, die Stadt wurde zu einem gefährlichen Ort, der Seuche wegen, und Edward Burtynsky blieb im Grey County. Gleichwohl fotografierte er. Doch ging es ihm nicht mehr um die Steinbrüche, Autobahnkreuze und Containerhäfen, für die er zuletzt berühmt gewesen war. Stattdessen ging er ins nachbarliche Gehölz und damit in eine Natur, an die niemand je Hand angelegt hatte. Diesen Wildwuchs bildete er nicht von oben ab, so, wie er gewöhnlich Landschaften fotografiert hatte, mithilfe einer Drohne, eines Krans oder eines Hubschraubers, sondern frontal: Ein Mensch steht vor dem Dickicht, aber nicht einmal ein Trapper fände einen Weg hinein.

Erst im 19. Jahrhundert verließ die Kunst die vom Kapital geordnete Welt

Historisch betrachtet künden Landschaften von einem Regime des Selbstbezugs. Das gilt auch in materieller Hinsicht: Oft dokumentieren sie Herrschaft oder Eigentum. So war es in der italienischen Malerei der Renaissance, als die Menschen in die Umgebung zu schauen begannen, um sich darin selbst zu entdecken. Das Instrument dieser Reflexion war die Zentralperspektive. So war es in den niederländischen Landschaften des 17. Jahrhunderts, als der Blick des Malers über Äcker, Weiden und Polder schweifte, als gälte es, ein Kataster festzuhalten.

Erst im frühen 19. Jahrhundert, bei den Romantikern, verließ die Kunst die vom Kapital geordnete Welt. Damals, in Gestalt des "Eismeers" etwa, wie es von Caspar David Friedrich gemalt wurde, wandte sie sich natürlichen Räumen zu, in denen der Mensch keinen Ort hatte, oder, was dasselbe ist: Die Kunst suchte sich Räume zu erschließen, in denen keine andere Geschichte stattfindet als der wiederkehrende Wechsel der Jahreszeiten. In "Natural Order", einer Serie von knapp drei Dutzend Bildern, die Edward Burtynsky im vorvergangenen Frühjahr in der Wildnis des Grey County aufnahm, vollzieht der Fotograf diesen Übergang nach, unter verschärften Bedingungen. Denn die Berge und Meere der Romantiker sollten so erhaben wirken, damit sich der Mensch ihnen gegenüber klein fühlen konnte. Im Gehölz ist er gar nicht vorgesehen.

Noch der kleinste Zweig tritt in hoher Schärfentiefe hervor

Es scheint wenig hohe Bäume in dieser Gegend zu geben. Dafür mag der kalte Winter sorgen, so, wie er von Norden, von der Hudson Bay, in die Umgebung der Großen Seen vordringt. Umso dichter aber ist offenbar das Ineinander aus niedrigeren Gewächsen, Schlingpflanzen, Unterholz, Sträuchern, Flechten oder Farnen. Der Wald ist hier ein Filz, ein gigantischer Innenraum, der keinen Zutritt gewährt und sich als tiefe Verwirrung darstellt, das Wort "tief" dabei in einem doppelten Sinn verstanden, in einem moralischen und in einem räumlichen Sinn. Entstanden sind die Fotografien in der Zeit zwischen dem letzten Schnee und dem ersten Grün, sodass kein Blattwerk der Verwirrung die Tiefe nimmt.

Fotografiert wurde der Filz mit einer extrem hochauflösenden dänischen Kamera, einer "Phase One", die es erlaubt, die Schärfentiefe zu erweitern, in einzelnen Schritten ("focus stacking"). Selbst der kleinste Zweig, der dünnste Halm tritt deutlich hervor, gleichgültig, ob er sich nun in einer Entfernung von einem Meter oder von dreißig Metern befindet, und in allen Nuancen der Form und der Farbe: Edward Burtynsky spricht von "den Vierteltönen" des Kolorits, die er mit dieser Technik abzubilden - oder sollte man doch besser sagen: zu schaffen? - imstande ist. Nebenbei stellt sich bei manchen dieser Fotografien der Eindruck ein, der kanadische Urwald sei insgeheim eine Partnerschaft mit Jackson Pollock und dem abstrakten Expressionismus eingegangen.

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