"Wer hat meinen Vater umgebracht":Der Mörder ist immer der Präsident

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Ausdrücklicher Unterstützer der "Gelbwesten": der Autor Édouard Louis. (Foto: The Washington Post/Getty Images)
  • Das neue Buch des französischen Autors Édouard Louis ist politisch eher grob gestrickt.
  • In den minimalistischen Erkenntnisschnipseln von "Wer hat meinen Vater umgebracht" zeigt sich aber das Talent des Autors.

Von Joseph Hanimann

Der stilistisch ausgedünnte Naturalismus aus Frankreich zwischen Soziologie und Autobiografie wird vielleicht einmal als neue Variante der Väter-Söhne-Literatur in die Geschichte eingehen. Als eine Form von Gesellschaftsroman, bei der die Söhne nicht mehr vor den Vätern sterben, sondern diese als Restposten in ihrer Abrechnung mit dem paternalistischen Virilitätskult entsorgen. Der sechsundzwanzigjährige Édouard Louis und sein Mentor Didier Eribon, Autor des Buchs "Rückkehr nach Reims", sind die bekanntesten Vertreter jener generationellen Liquidierungsliteratur. Andere Autoren wie Azouz Begag oder Saphia Azzeddine, Autorin des Bestsellers "Mein Vater ist Hausfrau", haben aus der Gegenperspektive nordafrikanischer Immigrantenschicksale auch schon die zwischen Verklärung, Verachtung und Hass sich aufreibende Vaterfigur erforscht. Und die Ergebnisse sind irritierend symmetrisch.

Der Vater, den Édouard Louis in seinem neuen Roman "Wer hat meinen Vater umgebracht" in den Mittelpunkt stellt, ist aus seinem Erstlingsroman "Das Ende von Eddy", mit dem er vor vier Jahren berühmt wurde, schon bekannt. Dort war der vierschrötige Typ aus dem nordfranzösischen Arbeitermilieu noch hauptsächlich damit beschäftigt, seinen in Frauenkleider und Lippenstift vernarrten Sohn zu echter Männlichkeit zu erziehen. Dieses neue Buch zeigt ihn in weicherem Licht. Der über Generationen hinweg weitervererbte Konformitätsdruck polternder Virilität ist zwar auch hier bestimmend.

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Seine ganze Kindheit hindurch wünschte sich der Knabe bei der Rückkehr aus der Schule nichts dringender, als dass das Auto des Vaters nicht schon vor dem Haus stehe. "Lass ihn nicht da sein, lass ihn nicht da sein!", betete er in seinem Kopf. Ein abwesender Vater war für ihn der beste Vater, wohingegen für den seinen gerade die Abwesenheit des plötzlich spurlos verschwundenen Vaters das große Unglück war, so sehr, dass er später bei der Nachricht von dessen Tod - "so ist der alte Scheißer also krepiert" - sich zum Feiern des Ereignisses sofort eine Flasche aus dem Dorfladen besorgt.

Édouard Louis ist bekannt für die schroffe Grobzeichnung der Situationen und Szenen. Mit Überspitzung und Totalverzicht auf szenische Ausschmückung sucht er ein um sein Selbstbewusstsein gebrachtes provinzielles Arbeitermilieu mit herumbrüllenden Vätern, resignierten Müttern, verkümmerten Konsumwünschen und im Wutanfall an der Wand zerschellenden Gegenständen zur Darstellung zu bringen. Das vom Soziologen Pierre Bourdieu beeinflusste Gesellschaftsbild, das den Autor in den vergangenen Wochen zum virulenten Beifallspender der französischen "Gelbwesten"-Bewegung machte, liegt im steilen Gefälle von "oben" und "unten", Nutznießern und Opfern der Weltordnung. Gewaltbereitschaft, Alkoholismus, Unbeherrschtheit, Fremden- und Schwulenhass werden aus den Frustrationen eines Systems hergeleitet, das nur Gewinner und Verlierer kennt. Es neigt damit zu einer sozialen Überdeterminierung der Einzelperson.

Im Gesamtfluss des Vorhersehbaren und mitunter Plakativen bringt dieses Buch aber interessante Wirbel des Unerwarteten, die plötzlich die ganze Komplexität der Wirklichkeit an die Oberfläche spülen. Weil dein Vater gewalttätig war, sagt der Erzähler in seinem inneren Dialog zum stumm bleibenden Gegenüber, hast du uns mit deinem Vorsatz, die eigenen Kinder nie zu schlagen, die Gewalt erspart. "Lang habe ich immer wieder gesagt, Gewalt bewirke Gewalt", fährt er fort, "aber da habe ich mich geirrt. Gewalt hat uns vor Gewalt bewahrt."

Was nicht bedeutet, dass aus diesem zwischen lautem Mundwerk, verschämtem Blick und loser Hand Hin- und Hergerissenen plötzlich ein Vorbild würde. "Wenn du zu viel getrunken hattest, sagtest du mit gesenktem Blick zu mir, doch, natürlich würdest du mich lieben", heißt es an anderer Stelle, mit dem Fazit: "Du warst ebenso das Opfer der Gewalt, die du ausübtest, wie derjenigen, der du ausgesetzt warst." Eine Welt aus lauter Opfern also? Nein, es gibt Täter und die werden beim Namen genannt: Der Präsident Chirac hat dir nach deinem Arbeitsunfall durch verminderte Rückvergütung der Medikamente den Darm kaputtgemacht, Sarkozy hat dir durch die reduzierte Sozialhilfe das Rückgrat gebrochen, Hollande durch das neue Arbeitsrecht die Luft abgeschnitten, Macron durch Streichung der Wohnungsbeihilfe das Essen vom Teller genommen - und wie Shakespeares Richard III. oder Jack the Ripper "möchte ich ihre Namen aus Rache in die Geschichte einschreiben".

So viel Überzeichnung bedroht die Substanz dieses Buchs. Sie vermag sie aber dank der in ihrer Verknappung funkensprühenden Situationsskizzen nicht ganz zu kippen. "Papa, schau mal", bettelt der bei einem Familienabend mit Freunden ein Konzert der Popband Aqua imitierende Sohn. "Schau mal, Papa." Dieser blickt aber beharrlich weg, verärgert und im Gefühl der Demütigung vor den Gästen, dass sein Kleiner sich statt für Formel 1 für Singsang und Verkleidung begeistert. "Es ist nichts, mach dir nichts draus", tröstet er dann aber etwas später unter hektischem Rauchen draußen in der Kälte vor dem Haus den Jungen, der ihn dort mit der Bitte um Verzeihung für den Vorfall aufsucht.

Auch dieser Rohling mit dem unausgereift sanften Gemüt, dem sein Männlichkeitswahn nichts als den frühen Abgang aus der Schule und damit lebenslängliche Armut gebracht hat, notiert der Autor Louis, habe in seiner Jugend Ausbruchsversuche vom eigenen Selbst unternommen. Fünf Jahre lang habe er mit Gelegenheitsjobs in Südfrankreich versucht, jung zu sein, bevor er in die Heimat zurückkehrte und sich in seine Sozialrolle einspannen ließ. Seine Jugend war ihm nicht gegeben, er musste sie sich selbst herausnehmen und war dann sein Leben lang darauf aus, mit Grobheiten, Vorurteilen, Sauferei und verkorksten politischen Ansichten das ihm Entglittene zurückzugewinnen.

Wie ein so politisch aufgezäumtes Sozialporträt des Vaters geradewegs zu Peter Handkes leiser Betrachtung über das "wunschlose Unglück" seiner Mutter führen kann, ist das Verwunderliche an diesem Buch. Und doch überzeugt der Vergleich im Kontrast. Anders als die gegenüber allen Elementen "mit offenem Mund Dastehende" habe sein Vater gar nie dagestanden, schreibt Louis. Nicht einmal den Mund habe er aufgesperrt, denn "du hattest dir den Luxus des Staunens oder des Erschreckens abgewöhnt, nichts war mehr unerwartet, weil du nichts mehr zu erwarten hattest". Brutalität sei für seinen Vater nicht Brutalität gewesen, sondern das, was er Leben nannte, was er gar nicht benannte, was einfach da war, was war.

In solchen minimalistischen Erkenntnisschnipseln wirkt dieses schmale Buch am stärksten. Die plakativen politischen Statements fallen wie Späne vom fein geschliffenen Kern eines Vaterprofils, das der Autor zwischen Auflehnung, Durchleuchtung und Anhänglichkeit umkreist. Die theoretischen Versatzstücke von Bourdieu bis Ruth Gilmore, deren er sich dabei bedient, sind Initialzündungen der Einsicht, mehr nicht. Der Rest ist Präzisionsarbeit am sprachlichen Ausdruck, die auch der Übersetzer mit einer konstanten Bemühung ums Sachliche an die Grautöne des Alltags heranholt.

Édouard Louis: Wer hat meinen Vater umgebracht. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. 80 Seiten, 16 Euro.

© SZ vom 23.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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