Édouard Louis' neues Buch "Die Freiheit einer Frau":"Sie hat ihre Träume nicht verwirklicht"

Wer hat meinen Vater umgebracht (Qui a tué mon père)
von Édouard Louis

Édouard Louis spielt sich selbst in "Qui a tué mon père (Wer hat meinen Vater umgebracht)". Thomas Ostermeier hat das Stück an der Berliner Schaubühne adaptiert.

(Foto: Jean-Louis Fernandez)

Der Soziologe und Schriftsteller Édouard Louis hat ein Buch über seine Mutter geschrieben. Und legt damit wieder einmal ein kollektives Unglück offen.

Von Miryam Schellbach

Es ist mitten in der Nacht, als in ihrer zu kleinen Wohnung in einem nordfranzösischen Provinznest, eine junge Frau, Mitte zwanzig, drei Kinder und zweimal verheiratet, die Scorpions voll aufdreht. Als ihr jüngster Sohn, ein Kleinkind noch, von der Musik geweckt, sich darüber beschwert, schreit sie, die sonst nie tanzt und selten die Stimme erhebt, ihn an. "Verdammte Scheiße, lasst ihr mich denn niemals glücklich sein?"

Entgegen der Behauptung, alle unglücklichen Familien seien auf ihre eigene Weise unglücklich, gibt es eine strukturell wiedererkennbare Erscheinungsform des Unglücks. Einer ihrer literarischen Chronisten in Frankreich ist seit einigen Jahren der 1992 geborene Soziologen-Schriftsteller Édouard Louis. Er selbst ist das Kind in der Szene, die Unglückliche seine Mutter. In seinem jüngsten, jetzt auf deutsch erschienenen Buch "Die Freiheit einer Frau" versucht Édouard Louis eine Erklärung dafür zu finden, warum seine Mutter so viel vom Leben wollte, aber kaum etwas bekam.

Das Arbeitermilieu, Armut, Bildungsungleichheit, der Hochmut der Intellektuellen gegenüber der Landbevölkerung und die Skepsis der Abgehängten jedem Kosmopolitismus gegenüber, das sind Louis' Themen seit seinem autofiktionalen Debüt, "Das Ende von Eddy" (2015). Darin schilderte er mit soziologisch kühlem Blick den Aufstieg, seine Befreiung aus der für ihn eng gewordenen Landregion, in der er die eigene Homosexualität genauso verstecken musste wie die Angst vor der brutalen Männlichkeit, die er an seinem Vater und Bruder erlebte. Dann der Ausbruch: Eddy Bellegueule legte wider Erwarten als erster in der Familie das Abitur ab. Das Soziologiestudium in Paris, die neuen Freunde, sein akademischer Verbündeter Didier Eribon besiegelten endgültig seinen Aufstieg, symbolisch begleitet von der Namensänderung zum bildungsbürgerlichen "Édouard Louis".

Louis erzählt in seinen Geschichten von sich selbst. Er verkörpert den Aufsteiger, beherrscht die dialektfreie Sprache und die Gesten des Weitgereisten, er schreibt in seinen Büchern, wie schwer es war, sie zu lernen. In der Berliner Schaubühne ist er derzeit in Thomas Ostermeiers Inszenierung seines Buches "Wer hat meinen Vater umgebracht?" zu sehen. Er spielt sich selbst. Die Faszination für den literarischen Helden ist ihrem Wesen nach dieselbe wie die Faszination für den Schurken. Beide geben einen Eindruck von der Handlungsfähigkeit des Menschen ungeachtet der ihm gesellschaftlich zugestandenen Möglichkeiten. Als Friedrich Schiller darüber zum Ende des 18. Jahrhunderts nachdachte, hatte er keine Ahnung davon, dass der Held des 21. Jahrhunderts ein bestimmter Typus des lebenspraktischen Soziologen werden würde, bar aller Waffen, dafür mit einem Sensorium für die feinen Unterschiede zwischen den Klassen.

Wer hat meinen Vater umgebracht (Qui a tué mon père)
von Édouard Louis

In dem Roman verarbeitet Louis seine Angst und Abscheu vor seinem trunksüchtigen, rechtsradikalen Vater, dessen homophobe Wutausbrüche ihn fürs Leben traumatisierten.

(Foto: Jean-Louis Fernandez)

Er ist ein "transclasse", ein Klassenwechsler. Seine heroische Tat? Er macht sich frei von den Grenzen seiner Herkunft, seines Milieus und kopiert den Habitus der "besseren Leute", wie es bei Louis heißt. Die Rückkehr der sozialen Schichtung als literarisches Motiv ist vor allem aus der französischen Literatur in den letzten Jahren auch in die deutschsprachige Literatur hinüber gewandert. Annie Ernaux, Didier Eribon, Chantal Jaquet und nun Édouard Louis sind die Vertreterinnen und Vertreter einer "écriture sociologique", deren filmisches Pendant Xavier Dolan mit seinem unvergesslichen "Einfach das Ende der Welt" beigesteuert hat, einem Soziopic der klassischen französischen Provinzfamilie.

Sie alle sind bestens mit dem Habitus-Theoretiker Pierre Bourdieu vertraut, der seine einflussreiche akademische Karriere 2001 mit einer Vorlesung über den "soziologischen Selbstversuch" beendet hatte. Dieser erstaunlich subjektive Vortrag des Meisters der soziologischen Objektivierung, übrigens erstmals vom damaligen Nouvel-Observateur-Redakteur Didier Eribon veröffentlicht, legte den Grundstein für die halb wissenschaftliche, halb literarische Gattung der Autosoziografie, also die reflexiv durchgearbeitete Rückschau auf die Statuspassagen des eigenen Lebens.

Mit Heike Geißlers "Saisonarbeit", mit "Zeige deine Klasse" von Daniela Dröscher und "Ein Mann seiner Klasse" von Christian Baron wurde der Klassenbegriff auch in der deutschsprachigen Literatur wieder salonfähig. "Soll & Habitus" heißt ein gerade veröffentlichter Sammelband, in dem sich 15 Autorinnen dazu befragen, ob der Klassenaufstieg auch ihr Verhältnis zu Geld verändert hat. Die Antwort fällt ganz im Sinne Bourdieus ambivalent aus. "Erst die Scham darüber, arm zu sein, dann die Scham darüber, nicht mehr arm zu sein", schreibt Sahar Rahimi in ihrem Aperçu in "Soll & Habitus".

Das Schicksal des Vaters beschreibt er als politische Klage, die Mutter in zärtlichem Ton

Diese Selbstversuche der jüngeren Generation sind dem soziologischen Feldversuch näher als der autobiografischen Selbsterforschung, sind mehr Soziofiktion als Egofiktion. Sie interessieren sich nicht primär dafür, wie das Individuum zu dem geworden ist, was es ist, sondern für die gesellschaftlichen Bedingungen dieser Genese. So klein diese Perspektivverschiebung anmutet, politisch ist das ein Unterschied ums Ganze. Wird der Klassenaufsteiger an sich für seine Disziplin, seine Fähigkeit zur Hochstapelei oder Anpassung zelebriert, trägt das kaum zu einer gesellschaftlichen Erkenntnis bei. Ganz im Gegenteil. Als Ausnahmeerscheinung bestätigt er, wie statisch und undurchlässig die gesellschaftlichen Schichten mit ihren habituellen Codes auch heute noch wirken.

Wird aber, so wie bei Édouard Louis, der Schmerz der Zurückgelassenen und die Desidentifikation der Aufgestiegenen geschildert, geraten kollektive Problemlagen in den Blick. Der Grundton dieser Geschichten der gesellschaftlichen Mobilität als "existenzieller Verkrampfung", wie der Germanist Carlos Spoerhase sie einmal genannt hat, sind zwingend niederschmetternd, darin aber instruktiv.

Schon 2018 hat Louis diese Strukturen des Unglücks mit "Wer hat meinen Vater umgebracht" in den Blick genommen. In diesem Buch unternahm er den Versuch, den individuellen Verfall des Vaters, seinen von der schweren Fabrikarbeit geschundenen Körper zu erzählen und ihn zugleich als soziologisches Symptom zu lesen. Nicolas Sarkozy, so klagte Louis an, habe seinem Vater das Rückgrat gebrochen, Francois Hollande ihm die Luft zum Atmen genommen und selbst "Emmanuel Macron reißt dir noch den letzten Bissen Nahrung aus deinem Mund".

Über den Aufstieg schreiben bedeutet auch: gegen die Literatur anschreiben

Die politische Anklage ist in Louis' "Die Freiheit einer Frau" einem zärtlichen Ton und der intimen Ansprache an die Mutter gewichen. Hatte ihrem Ehemann die harte körperliche Arbeit und das unzureichende Sozialsystem "die Luft genommen", so ist es nun er, der die Gewalt eine soziale Hierarchiestufe weiter nach unten reicht. Louis' Mutter bricht ihre Ausbildung der Kinder wegen ab, der erste Ehemann, ein Trinker, verprügelt sie, der zweite Ehemann, auch ein Trinker, beleidigt sie. Die inzwischen fünf Kinder sind kaum zu ernähren, eine wirtschaftliche Katastrophe, die nur gelegentliche Besuche bei der Essensausgabe abmildern. "Sie hat ihre Träume nicht verwirklicht. Sie hat, was sie als Abfolge von Unfällen sah, aus denen ihr Leben bestand, nicht reparieren können."

Dass das unterprivilegierte Leben mitunter einem Kampf gegen das Leben ähnelt, kann man bei Édouard Louis lernen. Aber auch, dass der Aufstieg, sein eigener, eine lebenslange Scham produziert, das Gefühl, den Ursprung verraten zu haben. Dafür findet Louis eindrückliche Bilder. Einmal bittet er seine Mutter in vorauseilender Scham, beim Elternabend nicht in der Nase zu bohren, und verletzt sie damit schwer. "Den ganzen Tag über ging sie wortlos neben mir her. Im Zug zurück hielt ich einen Meter Abstand zu ihr, fühlte mich aber, als wäre ich Hunderte Kilometer von ihrem Körper entfernt."

Édouard Louis' neues Buch "Die Freiheit einer Frau": Édouard Louis: Die Freiheit einer Frau. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2021. 96 Seiten, 17 Euro.

Édouard Louis: Die Freiheit einer Frau. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2021. 96 Seiten, 17 Euro.

Vielleicht ist das die ganze Poetik der Autosoziografie des "transclasse". Sie kommt mit einer Sprache der Zärtlichkeit daher, die um das Paradox kreist, wie die Literatur Gewalt darstellen kann, ohne selbst gewalttätig zu werden. Und sie ist eine Selbstanklage ohne reinigendes kathartisches Moment, aber mit politischem Eifer: "Man hat mir gesagt, die Literatur dürfe niemals einem politischen Manifest ähneln, aber schon schärfe ich jeden Satz, als wäre er eine Messerklinge." Über die Mutter zu schreiben, so heißt es im Anschluss, bedeute, "gegen die Literatur anzuschreiben".

Es ist eine legitime Forderung, die Geschichten der Unterprivilegierten zu erzählen. Dabei finden sich im literarischen Kanon durchaus auch die Geschichten der Vorortbewohner, der Lagerarbeiter, der Klassenscham und der Hochstapler-Syndrome. Jack Londons "Martin Eden", Stendhals Julien Sorel aus "Rot und Schwarz" sind Klassenwechsler, Leslie Kaplans "Exzess" und, ganz aktuell, Joseph Ponthus' "Am laufenden Band" führen in die Fabrik und zu ihren Arbeitern. Édouard Louis hat nur fünf Monate nach "Die Freiheit einer Frau" in Frankreich schon ein weiteres Buch veröffentlicht. Es ist ein Buch ganz über sich selbst, seinen eigenen Werdegang. "Changer : méthode" (sinngemäß etwa: Bedienungsanleitung zur Veränderung) enthält unter anderem die Erinnerung an eine Schulfreundin mit reichen Eltern und damit an einen biografisch alles entscheidenden Wendepunkt. Denn die erste Begegnung mit der Bourgeoisie und ihrer Kultur wird zum Ausgangspunkt von Louis' eigener Neuerfindung und Habitus-Transformation, auch wenn sie sich nie ganz vollendet. Die Autosoziografie scheint ein unerschöpflicher Fundus zu werden für die Geschichten der nächsten Jahrzehnte.

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:Der Elende

Édouard Louis ist der Popstar der französischen Literatur. Seine Kindheit war geprägt von Armut und Gewalt. Doch sie ganz hinter sich lassen kann er nicht - ­gerade ­darüber schreibt er ja. Ein Porträt.

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