Vielleicht sollte man diesem Herrn nicht gleich beim Eintreten mit jenem Lied kommen, das alle immerzu von ihm hören möchten. Womöglich stört es ihn, wenn sein Leben auf einen Song reduziert wird, den er vor einem halben Jahrhundert komponiert hat. Also sucht man erst einmal andere Themen. Zum Glück ist es nicht schwierig, mit Charles Dumont zu plaudern. Der 80 Jahre alte Chansonnier interessiert sich für alles, vom Buddhismus bis hin zu Wikileaks. Statt Vergangenem nachzutrauern, freut er sich auf die Zukunft, die allemal "sehr spannend" werde. Die Jugend sei kein Lebensabschnitt, sondern eine Geisteshaltung, zitiert er Marc Aurel. "Man wird alt, wenn man seine Ideale aufgibt." Und das tut er nicht.
Dumonts Ideal ist die Liebe. Ihr widmet er nicht nur sein Privat-, sondern auch sein Berufsleben. Er geht in Filzpantoffeln über den Parkettboden seines Salons und holt aus einem Regal seine neue CD hervor. "Charles Dumont chante l'Amour", heißt sie. Die ersten zehn Chansons, "Je reviens te chercher" etwa, wurden von anderen Künstlern geschaffen. "Diese Lieder haben meine Jugend geprägt. Sie waren meine Universität", sagt er. Die anderen zehn stammen von ihm. "Was kann man Schöneres tun, als sich der Liebe zu widmen? Die Liebe gibt die Kraft, die Herausforderungen des Lebens anzugehen, selbst den Tod. Ich schäme mich nicht, den Frauen zu sagen, dass ich sie liebe. Und ich verstehe nicht, warum andere Männer so selten zu ihren Frauen sagen: Je t'aime."
Jetzt scheint der Augenblick gekommen zu sein, "Non, je ne regrette rien" anzusprechen, jenes Lied, das zum Inbegriff Édith Piafs und des französischen Chansons wurde. Charles Dumont hat es einst komponiert. Er nennt es "meine beste Visitenkarte". Ist es ihm nicht unangenehm, stets damit identifiziert zu werden? Er verfällt in sein leises, heiseres Lachen. "Das wäre sehr undankbar, wenn mir das unangenehm wäre. Ich hatte das ungewöhnliche Glück, dass eine Künstlerin auf der Höhe ihres Könnens mein Lied zu einem Welterfolg machte. Ich durfte mithelfen, eine Legende zu schaffen." Auch bescherten ihm die Tantiemen dieses einen Chansons ein gutes Auskommen im Leben. "Soll ich mich über all das beklagen?"
Dabei hätte nicht viel gefehlt, und Charles Dumont wäre ein mäßig erfolgreicher Komponist aus der südfranzösischen Provinz geblieben, der er bis zu jener schicksalhaften Stunde vor nun 50 Jahren war. Der humorvolle, liebenswürdige Herr in der blauen Hose und dem hellen Jeanshemd erinnert sich genau an Ort und Zeitpunkt. "Es geschah am Boulevard Lannes Nummer 67 in Paris, am 5. Oktober 1960, um 17 Uhr", sagt er so pfeilschnell wie andere die Keilerei bei Issos im Jahr 333 vor Christus aufsagen. "Da änderte sich mit einem Schlag mein ganzes Leben."
Dumont hatte zu jener Zeit schon drei Rendezvous mit Édith Piaf hinter sich, bei denen er den Weltstar von seinen Kompositionen hatte überzeugen wollen. Sie endeten alle deprimierend. "Die Piaf war ausgesprochen unangenehm, misstrauisch - ja schrecklich. Sie hielt mich für einen mittelmäßigen Chanson-Schreiber ohne besonderes Talent." Dumont wollte nie wieder zu ihr gehen. Doch dann überzeugte ihn sein Freund Michel Vaucaire, der die Texte zu seinen Kompositionen schrieb, einen letzten Versuch zu wagen.
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Édith Piaf war damals erst 44 Jahre alt, doch scheinbar schon am Ende. Schicksalsschläge, Krankheiten, Drogen und Alkohol hatten den Körper und die Seele dieser 1,47 Meter kleinen und doch so großen Sängerin zerrüttet. Sie wollte nicht mehr auftreten. Als Dumont und Vaucaire zum vereinbarten Zeitpunkt an ihrer Wohnungstür klingelten, öffnete ihre Sekretärin und meinte, Madame Piaf sei schwer krank und gedenke nicht, sie zu empfangen. Die Männer wollten schon gehen, als die Sängerin plötzlich aus ihrem Schlafzimmer rief, wenn die beiden schon einmal da seien, sollten sie auch bleiben. Sie werde sich fertigmachen.
"Nach einer Stunde öffnete Édith Piaf die Tür", erzählt Dumont. Sie sagte ungehalten, dass sie sich nur ein einziges Lied anhören werde. Das verletzte Dumont. "Ich war wütend und erwartete mir gar nichts mehr." So eilte er ans Klavier und hieb eines seiner Lieder in die Klaviatur - "Non, je ne regrette rien", das er vier Jahre zuvor komponiert hatte. Als er endete, bat ihn Édith Piaf, es noch einmal zu spielen. "Und dann verwandelte sie sich, als ob die Sonne hinter Gewitterwolken hervorkam." Sie sagte: "Junger Mann, machen Sie sich keine Sorgen mehr. Darauf habe ich mein ganzes Leben gewartet. Dieses Lied wird um die Welt gehen."
Der Musiker glaubte nicht daran - und wurde rasch bekehrt. Denn Édith Piaf fühlte, dass ihr dieses Chanson, diese Ode auf den Lebenswillen und die Liebeskraft, geradezu auf den Leib komponiert war. "Non! Rien de rien - Non! Je ne regrette rien - Ni le bien qu'on m'a fait - Ni le mal tout ça m'est bien égal!" Genau das war auch ihre Haltung, ihre Botschaft: Egal, was auch passiert ist im Leben, Gutes wie Böses, die Hoffnung kapituliert nicht. Oder, um es mit Ernest Hemingways Maxime zu sagen: Ein Mensch kann vernichtet, aber nicht besiegt werden.
"Car ma vie, car mes joies - Aujourd'hui, ça commence avec toi!" ("Denn mein Leben, meine Freuden - Beginnen heute mit dir!") - für Édith Piaf war dies kein leeres Pathos. Vor etwa einem halben Jahrhundert, im Dezember 1960, stand sie wieder auf der Bühne, feierte im geschichtsreichen "Olympia" am Boulevard des Capucines ein umjubeltes Comeback. Ganz Paris schien mit ihr zu beben, als diese so zerbrechlich wirkende Frau zum Höhepunkt "Non, je ne regrette rien" anstimmte, erst dunkel, trotzig, bebend, drängend, dann jubelnd, triumphierend. Später dankte sie Dumont, er habe ihr die Liebe des Publikums wiedergegeben und im Olympia zum wunderbarsten Abend ihrer Karriere verholfen.
Seitdem geht dieses Lied um die Welt. Bereits 1961 wurden allein in Frankreich mehr als eine Million Platten davon verkauft. Später sollten die unterschiedlichsten Künstler wie Duke Ellington, Johnny Hallyday oder Patricia Kaas "Non, je ne regrette rien" interpretieren. Es wurde zu einer der Hymnen der Fremdenlegion, zum Höhepunkt von Kinofilmen wie "La vie en rose" und zum geflügelten Wort für Menschen in allen Lebenslagen.
Lesen Sie auf Seite 3, welche Liaison der Komponist zu der Sängerin hatte.
Für Charles Dumont aber begannen 1960 drei Jahre der Zusammenarbeit mit Édith Piaf. Er komponierte drei Dutzend weitere Lieder für sie. Sie zog ihn, der widerstrebte, auf die Bühne, sang "Les Amants" im Duett mit ihm und machte ihn so selbst zu einem bekannten Chanson-Sänger. "Sie war äußerst nett zu mir, überhäufte mich mit Geschenken", erzählt er.
Der Lazarus des französischen Chansons
Welcher Art war Ihre Liaison mit Madame Piaf, Monsieur Dumont? Der alte Herr schmunzelt, er kennt diese Frage. Früher hat er darauf einmal gesagt, Piaf sei damals schon viel zu krank für eine körperliche Beziehung gewesen. Heute meint er nonchalant: "Ich überlasse es den Leuten, zu glauben, was sie wollen. Ich liebte Édith Piaf sehr, und ich liebe sie noch immer." Dann sagt er: "Die Menschen, die man liebt, sind nicht tot."
Als die Sängerin 1963 starb, fühlte sich Dumont dennoch aus der Bahn geworfen. Er hörte auf zu singen und konzentrierte sich wieder aufs Komponieren. So schuf er die Filmmusik für "Trafic" von Jacques Tati. Richtig zufrieden war er mit seinem Leben aber offenbar nicht. "Alle hatten mich vergessen. Das geht schnell bei einem Sänger." Eine Freundin, die für CBS arbeitete, gab ihm schließlich einen Text und forderte ihn auf, die Musik dazu zu komponieren und das Lied zu singen. So kam Dumont mit "Ta cigarette après l'amour" zurück. "Ich bin aus der Erde wieder zum Licht auferstanden", meint er lachend. Seither nennt er sich den "Lazarus des französischen Chansons". Bis heute steht er regelmäßig vor Tausenden Menschen auf der Bühne.
Die Stunden vergehen rasch in der stimmungsvollen Altbauwohnung mit Blick auf das Théâtre National de l'Odéon im Quartier Latin, in der Dumont seit 50 Jahren lebt. Goldene Schallplatten, Fotos und andere Erinnerungsstücke hängen an den Wänden. Das Sonnenlicht streift über den hellbraunen Flügel, der den Raum dominiert. Auf ihm hat er einst "Non, je ne regrette rien" komponiert. Er glaube, dass auch die Dinge eine Seele haben, meint er, "und sei es nur eine kleine". Und Dumont wäre nicht Dumont, wenn er nicht auch über sein Klavier eine amouröse Geschichte zu erzählen hätte.
Vor etwa 20 Jahren sei es ihm beruflich besonders gut gegangen. Da packte ihn der Übermut. "Ich schickte mein altes Piano in mein Landhaus in der Provence und kaufte mir für ein Vermögen einen Steinway-Flügel." Daraufhin hätten ihn alle Gäste angesprochen, was für ein wunderbares Klavier er doch besitze. "Das schmeichelte mir. Aber dann merkte ich: Dieser Flügel und ich hatten uns nicht viel zu sagen. Wir waren nicht füreinander geschaffen. Ich spielte kaum darauf." Schließlich verkaufte er den Steinway unter Wert und holte sein altes braunes Piano zurück. Es war schwer verstimmt. Doch inzwischen leben die beiden wieder im Einklang miteinander. "Ich habe eine echte Liebesbeziehung mit diesem Klavier und werde es nie mehr verlassen."
Ab und zu spielt Charles Dumont natürlich auch sein großes Lied darauf. Nicht nur Édith Piaf, auch ihn selbst hat es ergriffen. "Ich habe Gutes und Schlechtes erlebt, ich habe mein Bestes gegeben, und ich bereue nichts - das ist doch das Schönste, was ein Mensch vor seinem Tod sagen kann. Und genau das will auch ich am Ende meiner Tage sagen."