Süddeutsche Zeitung

Roman von Edgar Selge:"Wir leben von den Gesetzesbrechern"

Großer Ernst, fabelhafte Lakonie und ein siebter Sinn für den richtigen Ton: Edgar Selges Erstling über die unmusikalische Mutter und den klavierspielenden Vater, der ein latent antisemitischer Gefängnisdirektor war.

Gastbeitrag von Michael Krüger

Dieses Buch handelt vom Wertvollsten, Schönsten und Schlimmsten, das einem im Leben passieren kann.

Seit kurzer Zeit erst und lange nach ihrem Tod träumt der Autor davon, dass die Eltern verloren gegangen sind: "Sie irren umher und suchen mich verzweifelt. Und träumend quält mich der Gedanke, dass sie nicht zurückfinden können, weil sie die Orientierung verloren haben... Oder sie denken, ich will sie nicht mehr sehen... Langsam haben sie sich an den Gedanken gewöhnt, dass Kinder irgendwann von ihren Eltern nichts mehr wissen wollen. Das ist wohl der Lauf der Welt, trösten sie sich gegenseitig."

Mehr zur Person

Michael Krüger, 1943 geboren, prägte als langjähriger Leiter des Münchner Hanser Verlags das literarische Leben in Deutschland. Er ist zudem Lyriker und Romancier. Zuletzt erschien im Sommer bei Suhrkamp sein Gedichtband "Im Wald, im Holzhaus".

Aber plötzlich nimmt der Traum eine Wendung, und Edgar findet sich in einem billigen Hotelzimmer wieder, in dem die Eltern leben. Er erkennt ihre Gegenstände, die Schuhe, die Jacke des Vaters über dem Stuhl. Und dann steht die Mutter vor einem geöffneten Schrank: "Sie dreht sich um, hat mich gehört, ich sehe ihr erstauntes, mädchenhaftes Gesicht, das in der langen Zeit, seit ich sie vermisse, eher jünger geworden ist. (...) Sie freut sich, aber sie ist gar nicht mal so überrascht. Eine sanfte Freundlichkeit schimmert auf ihrem Gesicht, und mir wird bewusst, dass dies das Wertvollste, Schönste ist, das ich je kennengelernt habe. Aber die Freundlichkeit bleibt bei ihr, sie wiegt sich in den Zügen ihres Gesichts, sie reicht nicht bis zu mir. Die Wellen, die alles im Leben transportieren, sind zu kurz und können diesen Ausdruck nicht bis in mein Herz tragen."

Und dann fällt der Satz, der dem Buch den Titel gegeben hat: "Wie schön, sagt sie. Hast du uns endlich gefunden."

Am Ende des Buches, dieses zu Herzen gehenden, manchmal sehr komischen Porträts of the actor as a young man, in dem die Jugend von Edgar und seiner Familie in Herford beschrieben wird, kommt in einem Epilog der Tod des Bruders Andreas zur Sprache. Mit Andreas, dem etwas "zurückgebliebenen" jüngsten von insgesamt fünf Buben, hat der Autor das Zimmer und den Rest geteilt. Der älteste, Rainer, ist beim Spielen mit einer Handgranate ums Leben gekommen, jetzt liegt Andreas mit Nierenversagen in der Klinik. Warum, fragt sich Edgar, habe ich mir so oft die Frage gestellt: "Was ist das Schlimmste, was mir überhaupt passieren kann?" und sich selber stets die Antwort gegeben: "dass dir etwas passiert, Andreas! Das ist das Schlimmste." Nachdem Andreas gestorben ist, das wird Edgar klar, beginnt die Suche nach seinem eigenen Leben. Das Buch ist den beiden überlebenden Brüdern gewidmet.

Der Vater ist wohl nicht zufrieden mit dem, was er ist

Zwischen diesen beiden extremen Gefühlslagen spannt Edgar Selge mit großem Ernst, fabelhafter Lakonie und einem siebten Sinn für den richtigen Ton und den Rhythmus der Sätze die Familiengeschichte des Oberstaatsanwalts und Gefängnisdirektors Dr. Edgar Selge und seiner Frau Signe aus. Gleich das erste Kapitel ist ein unvergessliches Tableau: Der Vater lädt die jugendlichen Strafgefangenen zu einem Nachmittagskonzert mit anschließendem Imbiss in sein Privathaus ein (Schnittchen und Apfelsaft), am Abend dann spielt er mit einem Profi aus Hamburg vor den Freunden, "Akademikerpaare aus unserer Kleinstadt".

Ob der Vater davon träumt, Pianist zu sein, weiß der Sohn nicht. Er vermutet, dass er ganz zufrieden damit ist zu sein, was er ist: ein besonders gut klavierspielender Gefängnisdirektor. "Mein musizierender Vater inmitten seiner Strafgefangenen. Wie vielen Menschen habe ich schon davon erzählt. Immer wieder neu, immer wieder anders. Mein ganzes Leben geht das schon so. Jetzt sitze ich hier und schreibe das auf. Hoffentlich verschwinde ich nicht zwischen den Sätzen. Je genauer ich bin, desto fremder werde ich mir."

Die Musik ist der eigentliche Motor in der Familie, der alles antreibt. Alle Kinder spielen ein Instrument, alle verstehen etwas von Musik und können darüber reden, auch die Mutter, die umblättert. Sie ist die Schwachstelle, wenn es um das Spielen geht. "Wenn man so süchtig nach dem schönen Geigenton ist wie mein Vater, wird es zur Qual, diese Frau zu begleiten." Dann ist die sonst enge Beziehung bedroht. "Sie sprechen es nicht aus. Niemand will es wahrhaben: sie selbst nicht, meine Brüder nicht - und ich? Ich kann einfach nicht darüber hinweggucken." Und während also der Direktor Dr. Selge Beethoven spielt, stellen die Strafgefangenen verblüfft fest, dass die von ihnen hergestellten Möbel im Privathaus des Direktors stehen. "Genau genommen ist es so, dass die Eingesperrten uns ernähren", sagt der altkluge Edgar, "nicht nur, weil sie unser Gemüse und unser Obst anbauen. Grundsätzlich, einfach weil sie da sind. Wir leben von den Gesetzesbrechern. Meine Eltern sehen das natürlich anders. Aber ich muss ihre Ansichten umdrehen, damit ich zu meinen eigenen komme."

Doch auch die Schwachstelle des Vaters kommt bald zur Sprache: Seine Tätigkeit während der NS-Zeit und sein Antisemitismus, der wie eine nicht heilbare Krankheit beschrieben wird. Es sind die härtesten Seiten in diesem Buch, wenn die Kinder die Eltern mit ihrer Vergangenheit quälen; wenn sie scheinheilig fragen, ob die Musik von Mendelssohn auch "ohne Tiefe" sei wie die übrige "jüdische Musik". Beim Mittagessen behauptet der Vater, die Juden seien nachschöpferisch, aber nicht schöpferisch. Damit will er seine Bewunderung für die gesamte russisch-jüdische Geigentradition ausdrücken, aber im Sinne von: Schuster, bleib bei deinen Leisten; ihr Juden könnt toll Geige spielen. Aber bildet euch nicht ein, komponieren, dichten oder malen zu können.

Und Edgar? Er schummelt sich so durch

Edgar, der renitente Junge, an dem die gängigen Erziehungsmethoden nicht gut haften, hat Mitleid mit dem Vater: "Er will nicht als Nazi rüberkommen, aber sein ganzes Denk- und Sprachgebäude ist in dieser Zeit errichtet worden, und so schnell findet er kein anderes. Von der völkischen Bewegung, die ihn mal getragen hat, ist nichts mehr übrig. An ihm klebt nur noch Hurrageschrei, Rausch, Taumel, leeres Pathos vom deutschen Wesen, Größenwahn, Hass auf die Juden und alle Andersdenkenden, und vor allem die Lager! Wie soll er damit umgehen, dass er mehr gewusst hat, als er zugibt? Er weiß nicht, wie er da wieder rauskommen soll, ohne einen Teil seines Lebens durchzustreichen. Bei unserer Mutter ist es ähnlich."

Sie schüttelt den Kopf, weil die Kinder ja keine Ahnung haben, wie die Juden sie damals von allen Plätzen gedrängt hätten. "Im Theater, in der Oper, in Konzertsälen, in den Universitäten, in den feinen Restaurants, in den Zeitungen, in der Politik, ach, überall, wo man hinsah: Die Juden waren immer schon da. Überall haben sie einem vor der Nase gesessen."

Und Edgar? Er schummelt sich so durch. Am Abend klettert er aus dem Fenster, um in die Spätvorstellung des Kinos zu kommen, wird aber gesehen und verpetzt. Und wo hat er das Geld her für den Kinobesuch? Geklaut, leider, aber da er von den pädagogischen Fähigkeiten von Lehrern und Eltern nicht viel hält, muss er zu ungewöhnlichen Maßnahmen greifen. Sogar die Klassenkasse hat er zur Selbstbildung verbraucht. Geh mal runter zu deinem Vater und entschuldige dich, sagt die Mutter. "Diese Treppe. Mit jeder Stufe abwärts bewege ich mich in den Trichter der Bestrafung hinein. Warum tue ich das? Immer wieder einen Fuß vor den anderen setzen, um mich zu entschuldigen, um etwas wiedergutzumachen? Weil ich die anderen an den Punkt bringen möchte, die Sinnlosigkeit ihrer erzieherischen Bemühungen selbst zu erkennen."

"Mit ihren schönen ernsten Gesichtern. In denen falsche Entscheidungen noch etwas bedeuten."

Einer der großen Vorteile dieses Buches ist, dass es durchgehend im Präsens geschrieben ist; wir wachsen also mit Edgar auf und sehen mit ihm in die Welt: Wir erörtern mit ihm die Frage, ob er womöglich eine kriminelle Energie hat (und was das eigentlich ist), wir schütten mit ihm einer verehrten Klassenkameradin eine Flasche Kakao in die Haare, und als der Lehrer ihn anschreit: "Willst du dich nicht entschuldigen, du Scheusal?", schütteln wir mit ihm den Kopf; und wir hätten uns mit ihm am liebsten die Zunge abgebissen, wenn er seine Mutter mal wieder mit der Vergangenheit gequält hat.

Aber vor allem verstehen wir, wenn wir so intensiv durch seine Brille geschaut haben, die Ambivalenz, mit der Edgar seine Eltern behandelt: "So stehen sie beide unter der Wohnzimmerlampe. Mit ihren schönen ernsten Gesichtern. In denen falsche Entscheidungen noch etwas bedeuten. Meine Mutter mit ihrem enttäuschten Leben. Und mein Vater mit der Angst, dass sein Leben mit ihrem zerbricht. Seine Angst geht mir nahe. Und ihre Pflichterfüllung, ihre nicht ausgelebte Wut über diese Pflichterfüllung, erschreckt mich so sehr, dass ich ihre Liebe ganz vergesse."

Ein Erstling? Mag sein. Vor allem anderen aber: ein hinreißend erzähltes, ein bedeutendes Buch.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5440509
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/mob
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.