"Die andere Heimat" von Edgar Reitz:Was man sieht, ist Abschied

"Die andere Heimat" von Edgar Reitz: Gustav (Maximilian Scheidt) und Jettchen (Antonia Bill) sind entschlossen, ihre Heimat zu verlassen.

Gustav (Maximilian Scheidt) und Jettchen (Antonia Bill) sind entschlossen, ihre Heimat zu verlassen.

(Foto: Concorde Filmverleih 2013/Christian Lüdeke)

Die bisherigen drei Teile der "Heimat"-Filme von Edgar Reitz haben deutsche Fernsehgeschichte geschrieben. Die Schwarz-Weiß-Bilder im vierten Teil "Die andere Heimat" wirken auch deshalb so wertvoll, weil sie kaum anderes zeigen als Abschiede. Einzigartig und unvergesslich.

Von Philipp Stadelmaier

Eine junge Frau nimmt Abschied. Von dem Mann, den sie immer liebte, und der auch sie geliebt hat. Am Grab ihrer Tochter, die sie nicht mit ihm hatte und zu dem sie schon morgen nie wieder wird gehen können. Dann sinken beide zu ihrer ersten, letzten und einzigen Vereinigung in ein nächtliches Bild zurück, aus dem das Licht selbst Abschied nimmt. Es legt sich zum letzten Mal auf Bäume, Grabsteine und Körper, an denen die Kamera vorbeifährt, um sie hinter sich zu lassen. Alles ist Abschied. Würden nicht die eigenen Tränen die Sicht auf diese Liebesszene trüben, eine der unvergesslichsten des deutschen Kinos, man sähe: Es ist der Film selbst, der weint.

Vielleicht, weil sie kaum anderes als Abschiede zeigen, wirken die Bilder in Edgar Reitz' "Die andere Heimat" so wertvoll - als würden sie darum bitten, zurückgehalten zu werden. Wir sind im Hunsrücker Dörfchen Schabbach, bei der Familie Simon, bekannt aus Reitz' berühmter "Heimat"-Trilogie - allerdings im Jahre 1842, etwa achtzig Jahre vor Heimat 1. Hungersnöte, Abgaben, Schinderei bei Militär und Willkür der Herrschenden lassen die Bewohner des Hunsrück ihre Heimat verlassen und eine andere suchen. Die Menschen ziehen entweder zum Friedhof - oder in die Fremde, nach Brasilien. Die Frau am Grab ist nur eine von vielen. Und so reichen bald die Wagenkolonnen mit ausgemergelten Menschen bis zum Horizont.

In solchen Momenten erinnert Reitz' vierstündiges Epos natürlich an Siedlertrecks aus den Western. Besonders denkt man an John Ford, der etwa in "Der Sieger" und "Schlagende Wetter" dorthin zurückkehrte, von wo die Siedler einst aufbrachen, nach Irland und Wales, um einer auseinanderfallenden Gemeinschaft ein Denkmal zu setzen.

Vom Abschied zusammengehalten

Bei Ford geschieht dies, wie bei Reitz und seinem Kameramann Gernot Roll, über das Licht. Wenn hier ein Mädchen eine dunkle Dorfstraße hochschlendert, wenn ein Mann, leicht von unten gefilmt, vor dem weiten Abendhimmel auf einem Karren sitzt, eine melancholische Mundharmonikaweise spielend, dann ist das Licht, das vor einem verblassenden Hintergrund auf sie fällt, spürbar hell und bewahrend.

Es sind Einstellungen, welche die geschichtliche Tiefe einer ganzen Gemeinschaft umreißen, die davon zusammengehalten wird, dass sie Abschied nimmt. Der Onkel der Familie Simon, der über seiner Arbeit am Webstuhl stirbt, während man die anderen Familienmitglieder bei ihren ewig gleichen Tätigkeiten sieht, scheint sie alle in einen großen gemeinsamen Totengesang einzuspinnen.

Das melancholische Historienfresko ist gleichzeitig durchdrungen von der Vorstellungskraft seiner Hauptfigur. Jakob Simon (Jan Dieter Schneider) ist der Sohn des Schmiedes. Auch er kann es kaum erwarten, den Hunsrück zu verlassen. Als Privatgelehrter hat er längst damit angefangen, ethnografische und linguistische Bücher zu verschlingen, vom Rio Grande und vom Amazonas zu träumen und sich die Sprachen dortiger Indianerstämme anzueignen, die er bald fließend spricht.

Ein Hauch magischer Realismus

Auf seinen romantischen Ausflügen in die Wälder umgibt ihn bereits die neue Welt, verschmilzt das Außen mit seiner Phantasie. Da erscheint ihm auf einmal, mitten bei der Kartoffelernte, eine Indianerin. Ob Indianerstämme wie die von Jakob beschriebenen Xancarau oder Cayucachúa je existiert haben? Das bleibt offen - und diese Offenheit verleiht dem Film einen Hauch von magischem Realismus.

Was bei Reitz Schabbach heißt, hieß bei García Márquez in "Hundert Jahre Einsamkeit" Macondo - ein kleiner Ort, in dem die ganze Welt eingefaltet ist. Und wenn das Jettchen (Antonia Bill) durch den Bernstein ihres Vaters sieht, dann erkennt sie darin einen Himmel, "der gar nicht mehr aufhört und in den man endlos weiter reingehen kann".

Zu diesem Eindruck trägt auch die Partikularität der Indianersprachen und des für hochdeutsche Ohren ebenso fremd klingenden Hunsrücker Platts bei, das die allesamt hervorragenden Schauspieler - zum großen Teil, wie Jan Dieter Schneider, Laien aus der Gegend - sprechen. Anstatt wie andere über ein "nationalgeschichtlich relevantes Thema" zu dozieren, zeigt Reitz die Unmöglichkeit jeder Heimat, die es nie geben kann und konnte, die immer schon eine "andere" gewesen sein wird.

Wie der Pfeil zum Schützen

Deswegen wird, in den Wirren der Liebe, der Revolution, der Abschiede und Entdeckungen, der Film ebenso wenig wie Jakob den Hunsrück je verlassen - und ihn genau dadurch ständig neu entdecken. Die Idee der Cayucachúa-Indianer vom Pfeil der Zeit, der im Flug in die Hand des Schützen zurückkehrt - sie scheint die Idee des Films selbst zu sein.

Was für den Raum gilt, gilt ebenso für die Zeit. Wenn im Winter die zahllosen toten Kinder des Dorfes zu Grabe getragen werden, versteht man auf verrückte Weise, dass diese Menschen auf einer gewissen Ebene keine Nachkommen und keine Zukunft haben werden. "Die andere Heimat" mag ein Prequel der Familiengeschichte der Simons sein - bleibt aber gleichzeitig ohne Folge. Und da versteht man, dass der Film ein ungeheures Meisterwerk ist, das wie der Pfeil zum Schützen stets zu sich zurückkehrt, ohne dabei an sich festzuhalten - das im Vorbeiflug nur kurz und immer anders aufblitzt und berührt, aber niemals endgültig in unserer Gegenwart ankommen kann.

"In langen Scharen ziehen die Schatten ins Meer", notiert Jakob einmal in sein Tagebuch. Oder in den Tod? Wenn die nocturnen Kompositionen auch an Murnaus "Nosferatu" erinnern, dann, weil die Bewohner von Schabbach auch ein Gefolge von Vampiren sind. Die Farben, die im Schwarz-Weiß manchmal kurz durchschimmern, im gelben Kerzenlicht etwa oder im türkisen Wandputz, zeigen, dass sie nie wieder sichtbar sein werden.

Was man sieht, ist Abschied - vorbei und unwiederholbar. Also einzigartig und unvergesslich. Man muss nur lange genug in den Bernstein schauen.

Die andere Heimat - Chronik einer Sehnsucht, D/F 2013 - Regie: Edgar Reitz. Buch: Reitz, Gert Heidenreich. Kamera: Gernot Roll. Mit Jan Schneider, Antonia Bill, Maximilian Scheidt. Concorde, 230 Min.

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