ECM:Hart, hell und glänzend wie ein Ei im Gras

Lesezeit: 6 min

Zum fünfzigsten Geburtstag seines Labels ECM widmet Manfred Eicher gleich mehrere Alben dem Kontrabass.

Von Norbert Dömling

Bevor Manfred Eicher, das Hirn und das Ohr des Münchner Musiklabels ECM, in den späten Sechzigerjahren mit der Produktion von Schallplatten begann, war er Bassist. In einem kurzen, um das Jahr 1970 entstandenen Film, der 2012 auf einer Münchner Ausstellung zu sehen war, die das Haus der Kunst dem Label widmete, war er im Ensemble des amerikanischen Saxofonisten Marion Brown zu sehen. Manfred Eicher widmete diesem Instrument auch später viel Aufmerksamkeit, über die fünfzig Jahre hinweg, die sein Unternehmen nun besteht. Zu bemerken ist das nicht nur an Aufnahmen wie "Bass Desires" (Marc Johnson, 1985), oder an der Freiheit, mit der sich Dave Holland oder Thomas Morgan, Charlie Haden oder Eberhard Weber, Steve Swallow oder Anders Jormin bewegten, wenn Manfred Eicher ihre Einspielungen produzierte, sondern auch an der technischen Sorgfalt, die bei ECM dem Bass gewidmet wird. Denn der Bass ist schwierig aufzunehmen: Gibt man ihm zu viel Tiefe, versumpft er. Gibt man ihm zu viel Präsenz, fängt er an zu brüllen. Gibt man ihm zu viel Höhe, gleicht er einer Drahtharfe. Noch in den Siebzigerjahren wurden, um die Aufnahmen zu vereinfachen, auch Kontrabässe gern mit Hilfe von Tonabnehmern aufgenommen. Manfred Eicher hingegen benutzte Mikrofone, um den natürlichen Klang des Instrumentes zu erhalten, und er scheute nicht davor zurück, auch dem Bass einen Hall zu geben, um diesen damit wie den anderen Instrumenten mehr Raum zu gewähren.

Als wäre bei diesem Instrument nach einem halben Jahrhundert noch einmal eine Summe zu ziehen, erschien in den vergangenen Monaten bei ECM eine ganze Reihe von Aufnahmen, bei denen der Bass entweder allein auftritt oder auf denen er eine prominente Rolle spielt. Das gilt zuerst für das Soloalbum "End to End" des amerikanischen Bassisten Barre Phillips. Einst eine Berühmtheit, ein Mann, der das erste Soloalbum für Kontrabass überhaupt einspielte (1968), der John Lennon und Yoko Ono bei seinem legendären Avantgarde-Konzert in Cambridge begleitete ("Natural Music", 1969) und der die Musik für viele Filme komponierte (zum Beispiel für Jacques Rivette und den Film "Merry-Go-Round" aus dem Jahr 1981), scheint Barre Phillips mittlerweile den Status eines Dodos angenommen zu haben: Es gibt seine Musik eigentlich nicht mehr. Doch je genauer man ihm zuhört, desto mehr wird offenbar, dass in diesem Fall ein historisches Unrecht geschehen ist. Der warme, weiche Ton des Kontrabasses macht hier die Musik, und Barre Phillips folgt seinem Ton, manchmal in Doppelgriffen, manchmal gestrichen, manchmal mit dem Bogen auf die Saiten schlagend. Für einige Augenblicke scheint dabei eine Melodie auf, im nächsten Augenblick ist es ein Rhythmus, der trägt, im übernächsten eine Klangfarbe. Doch immer wahrt Barre Phillips nicht nur die Spannung, sondern auch die Wärme.

Über jenes Konzert in Cambridge hatte John Lennon gesagt: "It's just us, expressing ourselves ... this is unfinished music." (Das sind nur wir, wie wir uns selbst ausdrücken ... das ist unvollendete Musik.) So redete man damals, und so rückte man die Musik ins Psychologische. Darin aber mag ein Irrtum liegen. Vor fünfzig Jahren gab es eine musikalische Avantgarde, die gleichsam hinter die musikalische Tradition zurücktrat und neu darüber staunen wollte, dass es so etwas wie strukturierten Klang gibt. Die musikalischen Errungenschaften der Avantgarde wurden zu einer Konvention, die von Radiohead bis Anderson Paak so ziemlich alles vereinnahmte. Um so erstaunlicher ist es, dass diese Musik dann so vital und selbstbewusst auftritt wie auf diesem Album, dessen Titel "End to End" man wohl eben deshalb ernst nehmen muss. Das Gegenstück zu Barre Phillips Expeditionen in den dicken hölzernen Klangkörper ist das Soloalbum "The Gleaners" des ebenfalls amerikanischen Bassisten Larry Grenadier. Was hier gespielt wird, ist kurz, kompakt und jeweils von einem starken musikalischen Konzept getragen. Am auffälligsten ist dieses Verfahren in "Woebegone", einem Stück von gut drei Minuten Dauer, das mit einer Akkordfolge beginnt, die ähnlich auch auf einer Gitarre hätte gespielt werden können. Dann legt er, während die Akkorde im Playback abgespielt werden, eine kleine Melodie darüber, und schließlich improvisiert er im Pizzicato über die eigenen Figuren. Keine drei Takte bleiben hier gleich, und doch gehorcht das Stück beinahe einer Liedform bis hin zu den letzten Akkorden, über die Larry Grenadier mehrstimmig streicht, so dass ein Chor-Effekt entsteht. Das Playback nutzt Grenadier in zwei der zwölf Album-Stücke. Die verbleibenden zehn sind Soli, grandiose zumal. Larry Grenadier hat in den Ensembles von Brad Mehldau, Pat Metheny, John Scofield, Wolfgang Muthspiel und vielen anderen gespielt. Er dürfte einer der meistbeschäftigten Bassisten des zeitgenössischen Jazz sein, seiner Anpassungsfähigkeit und Virtuosität wegen, aber auch, weil er musikalische Ideen anstößt, damit sie sich in die Luft erheben und davonfliegen können als wären sie Dohlen. Barre Phillips und Larry Grenadier eint der tiefe, warme Ton ihres Instruments. Doch wo dem einen das Minimum einer musikalischen Idee ausreicht, um daraus zehn Minuten Reflexion über einen Klang dahinschweifen zu lassen, schafft Larry Grenadier knappe Wunderwerke der Konzentration. A "Novel in a Sigh" heißt das letzte Stück auf dem Album: "ein Roman in einem Seufzer". Es ist eine fast symphonische Komposition auf dem gestrichenen Bass, auf einer Länge von kaum mehr als fünfzig Sekunden. Was sich im Jazz in den vergangenen Jahrzehnten veränderte, von der freien Musik bis zu einer kammermusikalischen Prägnanz, und was der Bass damit zu tun hat, als Agent der Verdichtung und der Erdung: Das ist im Gegenüber dieser beiden Aufnahmen deutlich zu hören.

Die Dodos und die Dohlen leben auf einer Insel, zu deren Geografie ein paar hundert Kompositionen gehören, die jeder Musiker kennt. Man nennt sie "Standards", sie bilden die Wegmarken, an denen sich noch die schrägsten Vögel auf ihren Zügen orientieren. Für das Duo, das der Gitarrist Bill Frisell und der Bassist Thomas Morgan bildeten, als sie im New Yorker Club "Village Vanguard" das Album "Epistrophy" aufnahmen, stammen die Standards von Billy Strayhorn, Jerome Kern und Thelonious Monk. Zur vorläufigen Summe, die Manfred Eicher zur Geschichte des Kontrabasses im Jazz zu ziehen scheint, gehört unbedingt auch diese Aufnahme: Denn sie verhält sich zu den anderen beiden Alben wie ein Ausflug in die freie Landschaft, nachdem man den Abend zuvor auf der Insel der Kammermusik verbrachte. Seit vielen Jahren schon verfolgt Bill Frisell das Projekt eines "American Songbook", bei dem die vertrauten Weisen - Kompositionen für Film, Folksongs, Stücke aus Musicals - so lange auf ihre musikalische Essenz hin untersucht werden, bis diese freiliegt, hart, hell und glänzend wie ein Ei im Gras. Darüber wird dann improvisiert.

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Im Lauf der Jahre ist Bill Frisells Ton immer weicher, sein Spiel immer melodiöser geworden. In Thomas Morgan hat er zudem einen Partner gefunden, der seinen Minimalismus bindet, der die kleinsten Veränderungen aufnehmen und fortentwickeln kann und doch nie die Bindung an den staubigen Boden der offenen Landschaft verliert. Manchmal verhalten sich die beiden wie zwei Präriehühner, ein großes und ein kleines, bei einem Paarungstanz, bei "Epistrophy" zum Beispiel, einer Komposition von Thelonious Monk. Ein Thema von 32 Takten Länge wird darin in Wiederholungen dargeboten, mit den Halbton- oder Dominantseptverschiebungen, die für Thelonious Monk so typisch sind. Im Rhythmus sind deutlich die Viertel zu spüren, wie von einem Schlagzeug gespielt. Aber da ist keine Trommel, sondern nur eine Suggestion, die aus einem ebenso innigen wie entspannten Zusammenspiel entsteht.

Den Bogen zur zeitgenössischen klassischen Musik schließt Manfred Eicher in den jüngsten Veröffentlichungen seiner Firma ECM mit einer Verbeugung vor dem leider schon im Jahr 2012 verstorbenen italienischen Bassisten Stefano Scodanibbio. Dieser Mann, begabt mit einer außerordentlichen musikalischen Vorstellungskraft, war ein Erfinder. Die klassischen instrumentalen Fertigkeiten beherrschte er sowieso. Auf der Suche nach neuen Bassklängen schuf er darüber hinaus eigene Spieltechniken und entwickelte vorhandene weiter, sei es mit dem Bogen oder mit der Greifhand. Seine ungewöhnlichen Klänge, sein Umgang mit Flageoletttönen und die oft abweichenden Stimmung seines Instruments ("Scordatura") wurden Luigo Nono oder John Cage zum Anlass, die Techniken in eigene Kompositionen aufzunehmen. Scodanibbio komponierte indessen auch selbst.

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"Alisei", das ist ein nun bei ECM erschienenes Album, ist eine Hommage an diesen Stefano Scodanibbio. Es beginnt mit einem Stück für Kontrabass Solo, gespielt von Daniele Roccato, das von lang gezogenen, manchmal pulsierenden Obertongeflechten geprägt wird, so dass der Klang eher an ein exotisches Blasinstrument erinnert. Im Mittelpunkt des Albums steht allerdings eine hier zum ersten Mal eingespielte Komposition für acht Kontrabässe, die wie eine Art Enzyklopädie der von Stefano Scodanibbio entwickelten Spieltechniken daherkommt. Im Unterschied zu den drei anderen dem Bass gewidmeten Alben ist diese Musik nicht nur aufgeschrieben, sondern auch mit zusätzlichen Spielanweisungen versehen. Und doch hat sie mehr mit dem Jazz zu tun, als man zunächst annehmen möchte: Alle Klänge, die man mit einem Bass erzeugen kann, erscheinen in dieser Musik enthalten, die freien, die notierten und die vielen anderen, die erst in der Notation und in den Spielanleitungen dazu frei werden.

© SZ vom 14.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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