Dylan Thomas Hörstück "Unterm Milchwald":Die Welt ist nicht mehr, wie sie war

Dylan Thomas Hörstück "Unterm Milchwald": Dem Stillsein folgt die Aufforderung, genau hinzuhören: der walisische Dichter Dylan Thomas im Jahr 1953.

Dem Stillsein folgt die Aufforderung, genau hinzuhören: der walisische Dichter Dylan Thomas im Jahr 1953.

(Foto: Imago/UIG)

Erich Frieds Version von Dylan Thomas' "Unter dem Milchwald" ist ein Klassiker. Jetzt hat Jan Wagner eine Neuübersetzung gewagt.

Von Nico Bleutge

Die kleine Stadt Llareggub muss man sich irgendwo an der Südküste von Wales vorstellen. Kaum 500 Menschen sind in den drei großen Straßen mit ihren wenigen Nebengassen zu Hause. Die Läden, die Kneipen, die Wohnhäuser - alles wirkt ein wenig heruntergekommen, am Rand der Verwahrlosung. In einem Reiseführer wird der Zustand als "jämmerlich" beschrieben, die Einwohner gelten als "derb" und "eigenwillig". Und es heißt weiter: "Obschon der Ort wenig bietet, was den Bergsteiger, den Wochenendausflügler, den gesundheitsbewussten oder sportlichen Besucher reizen könnte, mag eine nachdenkliche Natur (...) etwas von dem malerischen Gefühl von anno dazumal wiederfinden."

Der Dichter Dylan Thomas war alles andere als eine nachdenkliche Natur. Für "malerische Gefühle" hatte er wenig übrig. Und vermutlich ist das Küstenstädtchen, das er sich mitsamt seinen Bewohnern und Reiseführern ausgedacht hat, für Bergsteiger und Wochenendurlauber nur dann geeignet, wenn sie etwas mit Rhythmus und Sprache anfangen können. Trotz aller Realitätspartikel, die Thomas eingeschmolzen hat, ist Llareggub vor allem ein Ort der Imagination und des Klangs. In Thomas' Vorstellung sind die nächtlichen Häuser "blind wie Maulwürfe", der Gemeindesaal trägt "Witwentracht", und der titelgebende Milchwald ist ein "buckliger Buhl-und-Kaninchen-Wald".

1945 erhielt Dylan Thomas von BBC London die Einladung, ein Stück für das Radio zu schreiben. Gedacht war an ein gewöhnliches Hörspiel. Doch Thomas ging wie immer seinen eigenen Weg. "Ein gutes Gedicht ist ein Beitrag zur Wirklichkeit", hat er in einem Radioessay aus jener Zeit vermerkt, "die Welt ist nie mehr, was sie war, wenn man sie einmal um ein gutes Gedicht erweitert hat."

Dylan Thomas Hörstück "Unterm Milchwald": Dylan Thomas: Unterm Milchwald. Ein Stück für zwei Stimmen. Zweisprachig. Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Jan Wagner. Carl Hanser Verlag, München 2022. 190 Seiten, 27 Euro.

Dylan Thomas: Unterm Milchwald. Ein Stück für zwei Stimmen. Zweisprachig. Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Jan Wagner. Carl Hanser Verlag, München 2022. 190 Seiten, 27 Euro.

(Foto: Carl Hanser Verlag)

Diese Überzeugung galt ihm nicht nur für Gedichte. Über viele Jahre hinweg erarbeitete er sich sein Radiostück und mischte dabei Versatzstücke aus all den Orten zusammen, an denen er gelebt hatte, von seiner Geburtsstadt Swansea über New Quai im Westen von Wales bis zu jenem kleinen Ort Laugharne an der Südküste, dem Llareggub vielleicht am meisten ähnelt. An dem Städtchen zogen ihn vor allem zwei Dinge an: das Gerede der Menschen und die Ruhe, die sich nachts in den Gassen ausbreitet.

Und so beginnt "Unterm Milchwald", mit dem Wunsch, still zu sein und sich all die Schlafenden ringsum zu vergegenwärtigen: die Bauern, Fischer, Händler und Rentner, die Schuster und Lehrer, Schneider und Gastwirte, die Prediger und Polizisten, Postboten und Bestatter, bis hin zu den "schwimmhäutigen Muschelsammlerinnen" und den schreienden Säuglingen.

Dem Stillsein folgt die Aufforderung, genau hinzuhören. Denn "Unterm Milchwald" ist zuallererst ein Stück aus Stimmen, denen man lauschen muss. Und die sich auf je eigentümliche Weise selbst oder gegenseitig vorstellen und so gleichsam erst erschaffen. Über das Hören werden die Momente vor dem inneren Auge der Zuhörenden sichtbar.

Der Vormittag ist "nichts als Gesang", der Mittag huscht fast vorbei

Wie James Joyce in seinem "Ulysses" konzentriert sich Thomas auf einen einzigen Tag. Einen Frühlingstag, um genau zu sein. Es geht los in der Nacht und endet in der Nacht. Im Wechsel zwischen einer eher allgemein gehaltenen Perspektive und dem Zoom auf Einzelgeschichten lässt Thomas die Bewohner von der "Aufauf-ihr-Schlafmützen-morgens-früh-um-acht-wird-Kaffee-gemacht-Rathausglocke" aus dem Schlaf läuten.

Der Vormittag ist "nichts als Gesang", der Mittag huscht fast vorbei, während der sonnige Nachmittag alles verlangsamt, die Bewohner fast einlullt mit seinem "Gähnen" und "Gammeln". Erst abends bringen die anspringenden Lichter der Lampen die Dinge für Momente wieder in Bewegung - und die Trinkenden stoßen im Seefahrerkrug auf die Nacht an.

Dabei haben die unterschiedlichsten Figuren ihren Auftritt. Der Postbote Willy Nilly etwa, dessen Frau die Briefe über dem Küchenkessel aufdampft. Mog Edwards und Myfanwy Price, die am oberen und am unteren Meerende der Stadt wohnen und sich jeden Tag Liebesbriefe schreiben. Oder Mrs Ogmore-Pritchard, die ihre beiden verstorbenen Ehemänner als schlurfende Gespenster wiedertrifft.

Thomas liebt das Spiel mit Idiomen, für die Übersetzung könnte die Herausforderung größer nicht sein

Wobei die heimliche Hauptperson und der eigentliche Experte für die Toten der blinde Kapitän Cat ist. Einsam sitzt er hinter seinem offenen Fenster und hört dort nicht nur die Stimmen verstorbener Seeleute, sondern lauscht auch den Geräuschen der Stadt. Wenn man seinen bildstarken Sätzen folgt, meint man nach einer Weile selbst, nur anhand der Stimmlagen und Töne erraten zu können, wer gerade um die Ecke biegt oder wem Willy Nilly eine Postsendung übergibt.

Die meisten der Figuren hat Dylan Thomas typisiert. Das passt zu seiner Lust, mit Sprichwörtern und idiomatischen Wendungen zu spielen und überhaupt die Wörter zu dehnen und zu drehen. Diese eher rhetorischen Kniffe treffen auf eine poetische Wucht, die völlig eigene Bildwelten hervorbringt. Für die Übersetzung könnten die Herausforderungen kaum größer sein. Erich Fried hatte kurz nach der BBC-Erstsendung von "Under Milk Wood" 1954 eine Fassung des Textes vorgelegt, die einen großen Teil von Thomas' sprachlichen Eigenheiten im Deutschen umsetzt. Vielen gilt sie noch heute als Klassiker.

Der Dichter Jan Wagner, der sich jetzt an eine Neuübersetzung des Hörstücks gemacht hat, weiß das natürlich. Nicht von ungefähr kokettiert er in seinem Nachwort damit, wie "nahezu perfekt" Frieds Übersetzung sei, sodass jeder Versuch einer Neuübersetzung von Anfang an "zum Scheitern verurteilt" scheine. Wagner hat sich genaue Gedanken gemacht, wie Satzbau und Rhythmus im Deutschen aussehen könnten, und hier immer wieder kluge Lösungen gefunden. Dazu hat er viele der Alltagswendungen, die Fried dem Sprachgebrauch seiner Zeit entnommen hat, neu aufgeladen. Das zeigt sich oft an Kleinigkeiten, etwa wenn aus "very small news" statt des Fried'schen "gar nicht viel Neues heut" ein viel nüchterneres "kaum Neuigkeiten" wird.

Manchmal scheint ein selbstauferlegter Reimzwang am Werk zu sein

Insgesamt ist Jan Wagner in seinen Formulierungen meist frischer als Erich Fried. Aber ganz gegenwärtig klingt auch seine Übersetzung nicht immer. Es wird nicht klar, warum aus "ho ho" ein antiquiertes "herrje" werden muss oder warum "in sudden springshine" sich in ein "im jähen Frühlingsschein" verwandelt. Manchmal scheint ein selbstauferlegter Reimzwang am Werk zu sein, etwa wenn Wagner bei dem Halbsatz "as we tumble into bed", der sich auf "dead" reimt, zu einem ganz anderen Sprachregister greift und "wenn die Leidenschaft loht" übersetzt, nur um den Reim auf "tot" einzuhalten.

Stark ist Wagners Übersetzung vor allem dort, wo er die zahllosen Wortspiele, Songs und Abzählreime, die Thomas in seine Stimmen einzieht, ins Deutsche umformt. Und in der Nachbildung der Klangschicht, über die jeder Satz verfügt. Der Milchwald führt hier nicht einfach hinunter zum Meer, sondern "humpelt unsichtbar runter zur schlehenschwarzen, zähen, schwarzen, krähenschwarzen, fischkutterhupfenden See." Eine wundersame Entsprechung zu Thomas' "the wood limping invisible down to the sloeblack, slow, black, crowblack, fishingboat-bobbing sea".

So phantasmagorisch Dylan Thomas sein Stück auch angelegt hat - die Selbstverständlichkeit, mit der hier Krähen, die schwarze See und die Toten in den Köpfen der Menschen anwesend sind, ist auch ein Nachhall der Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs. Nicht von ungefähr trägt der Bestatter den Namen Evans-der-Tod. Thomas selbst entging dem Kriegsdienst. Als er 1953 mit nicht einmal 40 Jahren starb, lungenkrank, dem Alkohol verfallen, war er gerade auf Lesereise in den USA unterwegs. Um Geld zu verdienen - und um seinem "Milchwald" eine unvergleichliche Stimme zu geben.

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